Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Hartmann
Vom Netzwerk:
arbeitet, der soll auch nicht essen«, sagte, wie erwähnt, Franz Müntefering. Der Hartz-IV-Empfänger aus Speyer seine gesellschaftlichen Pflichten erfüllt. Er starb am 15. April 2007 an einem Herz-Kreislauf-versagen, nachdem er seit Monaten keine vernünftige Nahrung mehr zu sich genommen hatte. 113
    Wie das »Wirtschaftswunder Tafel« die Armut verdeckt
    Nach zwei Stunden fährt Dimitri, die Ladefläche nur zu einem Viertel voll, ein wenig enttäuscht zum Großmarkt. An der Rampe einer Lagerhalle, in der die Großmarktverwaltung der Münchner Tafel Raum zur Verfügung stellt, parken weitere Lieferwagen mit dem aufgedruckten blauen Corporate Design der Münchner Tafel. Hier werden die Waren abermals sortiert, Kartonagen und Folien weggeworfen und Biomüll entsorgt. Dann werden die Lebensmittel auf die Lieferwagen verteilt. Die Ausbeute ist heute mager. Einige der ehrenamtlichen Frauen steuern die Großmarkthallen an und hoffen darauf, dass sie übrig gebliebene Ware von den Händlern geschenkt bekommen. Den meisten sind die Damen mit den dunkelblauen geblümten Schürzen schon bekannt, »Schürzenjäger« werden sie genannt. Langsam schlendern sie durch die Hallengänge, fragen mal hier und dort. Nicht überall sind sie willkommen, manchmal ernten sie auf ihre freundliche Nachfrage nur ein unwirsches Kopfschütteln. Eine der Frauen sagt, es gebe zwei Sorten von Händlern: diejenigen, die gern die guten übrig gebliebenen Sachen spenden, und andere, die nicht einsehen, dass Menschen Essen gratis bekommen sollten: »Die sollen arbeiten gehen wie wir auch«, heiße es dann.
    An der Rampe stehen Paletten mit Obst und frischem Gemüse vom Großmarkt und Zentnersäcke Kartoffeln und Karotten. Regelmäßig kauft die Münchner Tafel Letzteres zu, wenn günstig große Mengen haltbarer Ware oder Gemüse angeboten werden. Damit werden die eingesammelten Waren ergänzt, wenn, wie an diesem Tag, nicht genügend zusammenkommt, um die Münchner Bedürftigen ausreichend zu versorgen. Charly **** war selbst einmal Tafelkunde, jetzt ist der stille Mittfünfziger als Fahrer und Lagerarbeiter angestellt.
    Er zieht einen Palettenwagen Vorräte aus dem Kühlraum: Fertignudelgerichte, Konservendosen, Tütensuppen, Kekse, Babynahrungsmittel, Kaffeemixgetränke. Routiniert verteilen die Ehrenamtlichen die Sachen auf die Lieferwagen, und schon kurz darauf macht sich der Hilfskonvoi auf den Weg in die Krisengebiete Münchens. Mit der steigenden Armut mussten sich die Tafeln professionalisieren. Um jeden Tag eine Million Deutsche mit Lebensmitteln zu versorgen, brauchen sie jeweils die Logistik eines mittelständischen Unternehmens.
    Mit dem Erfolg der Tafeln mehrte sich aber auch die Kritik. Stefan Selke ist Soziologieprofessor an der Universität Furt wangen. 114 Er ist der Erste, der sich in Forschungsprojekten mit den Tafeln beschäftigt hat. Es dürfte kaum jemanden geben, der sich damit besser auskennt als er. Denn Selke, vor einigen Jahren selbst arbeitslos, hat sich ihnen nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive genähert: Er hat ein Jahr lang selbst als Ehrenamtlicher bei verschiedenen Tafeln mitgearbeitet. Anfangs war auch Selke begeistert von der Idee, während der Arbeit für die Tafeln jedoch wuchsen seine Zweifel an der »karitativen Schattenökonomie«. Seine Beobachtungen hat er in einem Buch festgehalten: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird . 115 Selke sagt: »Eine soziale Bewegung muss ein Ziel haben. Wenn das Ziel die Beseitigung von Armut ist, müssten die Tafeln an ihrer Abschaffung arbeiten.«
    Doch anstatt sich überflüssig zu machen, arbeiten die Tafeln an ihrer Etablierung. Jede Erweiterung der Tätigkeit, jede Neueröffnung, jeder neue Lieferwagen müsste ein Skandal sein, legen sie doch nahe, dass sich die Tafeln von einem der beiden Hauptziele, nämlich die Armut zu bekämpfen, immer weiter entfernt haben. Stattdessen feiern sie ihre Professionalisierung als Erfolg. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen Ehrenamtliche und großzügige Sponsoren sowie ökonomische Größen und die Anzahl der Fahrzeuge. Wahrgenommen werden neu geschaffene Arbeitsplätze, die Fläche der Lagerhallen, die Zahl der Tonnen eingesammelter Lebensmittel, aufwändige Spendenaktionen mit Supermärkten. Für jede Neueröffnung, für jedes Jubiläum lassen sich die Organisatoren der Tafeln von Gesellschaft und Politik auf die Schultern klopfen. »So wird Hilfe zum Selbstzweck. Die

Weitere Kostenlose Bücher