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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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daß sein anderer Bruder, an seine Fessel gebunden, geboren worden war und vorwärtsstürzte von Generation zu Generation, Nacht auf Nacht, von Kuß zu Kuß, von Liebe zu Liebe und durch Arterien und Hoden herabstieg, bis er wie auf nächtlicher Reise im Schoß seiner letzten Mutter anlangte. Die geheimnisvolle Ahnenreise stellte sich ihm jetzt schmerzlich und wahrhaftig dar, jetzt, da das Gleichgewicht zerstört und die Gleichung endgültig hergestellt worden war. Er wußte, daß etwas seiner persönlichen Harmonie fehlte, seiner formalen und alltäglichen Vollständigkeit: Jakob hatte sich unwiederbringlich von seinen Fußknöcheln befreit!
    Während der Tage, an denen sein Bruder krank war, hatte er diese Empfindung nicht, weil dessen abgezehrtes, vom Fieber und Schmerz verklärtes, seit langem unrasiertes Gesicht, so sehr von dem seinen abstach.
    Sobald er erst einmal regungslos war, beugte er sich über seinen totalen Tod, rief er einen Barbier, damit dieser den Leichnam »in Ordnung brächte«. Er war da und lehnte an der Wand, als der weißgekleidete Mann kam, bewaffnet mit dem reinlichen Werkzeug seines Berufs ... Mit der Präzision eines Maestros bedeckte er den Bart des Toten mit Seifenschaum - den schäumenden Mund. So sah ich ihn vor dem Sterben - und langsam wie jemand, der ein furchterregendes Geheimnis offenbart, begann er ihn zu rasieren. Bei dieser Gelegenheit überfiel ihn »diese« gräßliche Idee. Je deutlicher das bleiche, erdfarbene Gesicht des Zwillingsbruders unter dem arbeitenden Rasiermesser auftauchte, desto tiefer fühlte er, daß jener Leichnam nicht eine ihmfremde Sache sei, sondern daß er geschaffen war aus der ihm gleichen irdischen Substanz, daß er seine eigene Wiederholung war ... Er erfuhr die seltsame Empfindung, daß seine Eltern dem Spiegel sein Bild entzogen hatten, das Bild, welches er im Glas gespiegelt sah, wenn er sich rasierte. Jetzt, da dies Bild auf jede einzelne seiner Bewegungen antwortete, hatte es Unabhängigkeit gewonnen. Er hatte es bei anderen Gelegenheiten sich jeden Morgen rasieren sehen. Jedoch wohnte er nun der dramatischen Erfahrung bei, daß ein anderer Mann seinem Spiegelbild den Bart abnahm und dabei auf seine eigene physische Gegenwart verzichtete. Er hatte die Gewißheit, die Sicherheit, daß, hätte er sich in jenem Augenblick einem Spiegel genähert, er ihn als blanke Scheibe angetroffen hätte, auch wenn die Physik keine genaue Erklärung für dieses Phänomen bereitgehalten hätte.
    Es war das Bewußtsein, gespalten zu sein. Sein Doppelgänger war ein Leichnam! Verzweifelt tastete er, im Versuch zu reagieren, die feste Wand ab, und bei der Berührung durchfuhr es ihn wie ein Sicherheitsstrom. Der Barbier beendete seine Arbeit und schloß dem Leichnam die Lider mit der Spitze der Schere. In ihm zitterte die Nacht in der unwiderruflichen Einsamkeit des losgerissenen Leibes. So waren sie genau gleich. Zwei identische, unruhig wiederholte Brüder. Doch jetzt, als er diese beiden so innigst verbundenen Naturen beobachtete, überkam ihn die Ahnung, daß etwas Außergewöhnliches, Unerwartetes geschehen würde. Er stellte sich vor, daß die Trennung der beiden Körper im Raum nur scheinbar war, während in Wirklichkeit beide eine einzige, ganzheitliche Natur besaßen. Vielleicht, wenn die organische Zersetzung den Toten erreicht, beginnt er, der Lebende, in seiner belebten Welt gleichfalls zu faulen. Er hörte den Regen mit größerer Gewalt gegen die Scheiben trommeln, hörte, wie die Zikade mit einemmal ihre Saite zu sprengen drohte. Nun waren seine Hände eiskalt, von nun unmenschlichen Eiseskälte. Der besonders starke Geruch nach Formaldehyd ließ ihn an die Möglichkeit denken, sich die Fäulnis zuzuziehen, die sein Zwillingsbruder von dort, aus seinem eisigen Erdloch mitteilte. Doch das war absurd! Vielleicht war das Phänomen umgekehrt: den Einfluß mußte er ausüben, er, der noch am Leben war mit seiner Energie, mit seiner lebensvollen Zelle! Vielleicht blieben - auf dieser Ebene - er und auch sein Bruder unversehrt und hielten so ein Gleichgewicht zwischen dem Leben und dem Tod aufrecht, um sich gegen die Fäulnis zu wappnen. Doch wer vermochte das zu gewährleisten? War es nicht trotzdem möglich, daß der beerdigte Bruder unverweslich blieb, während die Fäulnis mit ihren blauen Polypen den Lebenden überfiel? Er dachte, daß letzteres anzunehmen, am wahrscheinlichsten sei, und fand sich damit ab, die Ankunft seiner grauenerregenden Stunde

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