Wir neuen Großvaeter
Zimmer stapeln sich nicht nur die Bücher von Astrid Lindgren und Die Raupe Nimmersatt , auch Geschichten über das alte Rom, die mittelalterlichen Ritter und die ägyptischen Pyramiden sind darunter. Leo ist auÃerdem bestens informiert über den Herrn der Ringe, über den noch immer verschollenen Kirchenschatz von Lima und die Entdeckung Amerikas.
Doch was Leo vor allem braucht, sind andere Kinder. Kinder lernen nur von Kindern. Kinder brauchen Spielkameraden, um sich sozial zu entwickeln. Wir gehen immer noch davon aus, dass nur wir Erwachsene unseren Kindern etwas beibringen können.
»Die Erwachsenen funktionieren zwar als Vorbilder, aber das Verinnerlichen und Einüben von Fähigkeiten erlernen Kinder nur mit anderen Kindern«, sagt der Schweizer Kinderarzt Remo Largo.
Ist dies ein Plädoyer für Krippe und Kindergarten? Zwar gibt es noch eine kleine Minderheit von Familien, wo es die Eltern schaffen, ihre Kinder auÃerhalb solcher Einrichtungen mit anderen Kindern zusammenzubringen, doch die meisten Familien sind auf Kitas angewiesen. »Dabei geht es in erster Linie nicht um die Betreuung des Kindes, sondern um die Entwicklungsförderung durch andere Kinder in einer kindgerechten Umgebung«, meint Largo. Die Mehrzahl von Pädagogen sind sich darin einig, dass eine kindergerechte Förderung vor allem bedeutet, die Grundfähigkeiten wie Sprache und soziale Kompetenz heranzubilden. Förderung geschieht nicht, indem Kinder möglichst früh Englisch lernen, sondern indem sie vor allem mit anderen Kindern zusammen sind.
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Jean und Lydie* â ein Ehepaar aus Luxemburg â haben für ihren sechs Monate alten Sohn bereits eine Fremdsprachenausbildung geplant. In asiatischen Restaurants der Umgebung suchen sie nach Chinesinnen, die Mandarin sprechen und die sich als Kinderfrau für Tim* engagieren lieÃen. Persönliche Beziehungen zu China haben die beiden nicht. Die jungen Eltern lasen lediglich in der Zeitung, dass die progressive amerikanische Elite ihren Nachwuchs mithilfe chinesischer Kindermädchen darauf trimme, später für lukrative Geschäfte mit chinesischen Partnern gerüstet zu sein. Im Kindergarten der Washingtoner Shing-Hwa-Chinese-Academy könnten bereits Dreijährige â so heiÃt es dort â Chinesisch beim Singen, Geschichtenerzählen und Basteln lernen. Hochchinesisch werde für die Generation der heute Drei â bis Fünfjährigen die wichtigste Sprache der Welt werden. Jean und Lydie hoffen nun auf den Kontakt zu einer chinesischen Studentin. Kost, Logis und ein kleines Taschengeld würden sie dafür investieren.
Auf der Frankfurter Buchmesse unterhielt ich mich einmal mit der Krimi-Autorin Ingrid Noll, die in Shanghai geboren wurde, dort ihre Kindheit verbrachte und mit ihren Geschwistern perfekt Chinesisch sprach. Nach ihrer Rückkehr in Deutschland verflüchtigte sich die fremde Sprache schnell. Heute kennt Ingrid Noll kein Wort aus dem Chinesischen mehr.
Für kontroverse Diskussionen rund um den Erdball sorgte das Buch Die Mutter des Erfolgs (Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte) der amerikanisch-chinesischen Juraprofessorin Amy Chua. Darin erzählt sie, wie sie mit Bitten, Drohungen und Erpressungen ihre beiden Töchter zu Höchstleistungen führte. Nur durch eiserne Disziplin, fortwährendes Ãben und Wiederholen entfalte ein Kind sein volles Potenzial. Die Autorin ist davon überzeugt, dass Kinder ausschlieÃlich durch Erfolgserlebnisse glücklich werden: Das Optimum sei gerade gut genug, und der Weg dorthin ein chinesischer. Nichts sei destruktiver für das Selbstwertgefühl eines Kindes, als zuzulassen, dass es aufgibt.
»Chinesische Eltern können ihren Kindern befehlen, Bestnoten nach Hause zu bringen«, schreibt Chua. »Westliche Eltern können ihre Kinder nur bitten, ihr Bestes zu versuchen.« Die aktuelle PISA-Studie gibt der Tiger-Mutter vordergründig recht: Die paukenden Schüler aus Shanghai lassen ihre westliche Konkurrenz in dem Test weit hinter sich.
Gewiss, Kuschelpädagogik ist inzwischen genauso überholt wie die Leistungsfeindlichkeit, mit der sie einst einherging. Doch die »Methode Chua«, die Machtkampf und Unterwerfung erfordert, passt nicht in die meisten westlichen Konzepte, die Liebe und Menschenfreundlichkeit propagieren. Von der Gabe der Empathie ganz zu schweigen.
Amy Chua erhält jedoch nicht
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