Wir sehen uns in Paris
Fenster hoch. Die Scheibe ist eingeschlagen, doch sie kann trotzdem nichts sehen. Die Öffnung ist mit Tüchern und Decken zugehängt.
Isabella hebt den Kopf und horcht auf die Stimmen von drinnen. Sie scheinen weiter weg zu sein, nicht in dem Zimmer, zu dem dieses Fenster gehört. Und wenn sie einfach nach einer Tür sucht und klopft? Doch sie verwirft den Gedanken sofort wieder. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Langsam, ganz langsam hebt sie ihr Bein und versucht, es bis zum Fenstersims hochzubekommen. Sie beißt sich auf die Lippen, um ja nicht zu ächzen oder zu stöhnen. Sie muss da hinauf, aber sie muss auch höllisch auf die Scherben aufpassen. Ganz leise zieht sie sich auf die Fensterbank hoch.
Da wird sie blitzschnell von einer Hand gepackt und hineingerissen. Überrascht schreit Isabella auf. Sie schrammt mit dem Bein über den Fensterrahmen – ein stechender Schmerz – und knallt auf den Bretterfußboden.
Es staubt gewaltig, und Isabella weiß kaum, woran sie als Erstes denken soll. Der Schmerz ist in ihrem Bein. Ein zuckendes schreiendes Etwas in ihrem Oberschenkel. Es breitet sich aus. Ihr wird kurz schwarz vor Augen, doch ein Pochen hält sie wach. Es kommt aus einer Wunde. Isabella drückt die Hand drauf.
Jetzt erst sieht sie sich um. Ihr ist schwindlig. Der Raum fährt mit ihr Karussell: Matratzen, Tücher, Kartons, alles verwuselt, verknotet, schmuddelig und chaotisch. Der Dreck um sie herum ekelt sie an. Sie will das alles nicht sehen! Schon gar nicht den Riss in ihrer Hose, der sich langsam rot verfärbt, und auch nicht das Blut. Sie macht die Augen zu. Bilder schwirren in ihrem Kopf, Bilder von U-Bahnhöfen, einem flüchtenden Jungen und von Hannah, die rennt und ruft. Aber Hannah ist nicht hier. Und sie liegt hier und sucht doch den Jungen. Wo ist sie bloß gelandet?
Mit einem Ruck wird Isabella vom Boden hochgezogen. Eine kräftige Hand hält ihren Unterarm fest umklammert.
»Au!«, schreit Isabella. »Lass mich los.« Sie versucht, die fremde Hand abzuschütteln. »Was willst du von mir?«
Vor sich nimmt sie das schmale blasse Gesicht eines Mädchens wahr.
Sie schluckt überrascht. Das fremde Mädchen hat schwarz-rot gefärbte Haare – allerdings nur rechts. Die linke Schädelseite ist ratzekahl rasiert. Piercings schmücken Nase, Ohren und sogar die Oberlippe. Ihre gesamte Kleidung ist schwarz: schwarze Hose, schwarze Boots, schwarzes Shirt. Und auch das restliche Outfit ist dunkel: schwarzer Nagellack, dunkellila Gürtel, mit schwarzem Kajal umschattete Augen. Irgendetwas stört das Gesamtbild. Doch erst, als das Mädchen grinst und zu reden beginnt, erkennt Isabella, was es ist: Ihr fehlt der linke untere Eckzahn.
»Was wird das? Du sitzt auf meiner Fensterbank und lauschst. Hier gibt es nichts zu lauschen und zu klauen. Also: Was soll das?«
» Deine Fensterbank?« Isabella blickt sich genauer um. Sie zittert vor Aufregung, Wut und Schmerz. Sie muss doch den Jungen erwischen. Aber er ist nicht zu sehen. Dann nimmt sie allen Mut zusammen und schaut das Mädchen trotzig an. »Wenn ich mich nicht irre, steht draußen fett DB an der Wand.« Sie stöhnt auf. Die Wunde blutet. Doch das Mädchen hält sie ungerührt fest.
»Genau. DB steht für Danni Borowski, und das bin ich«, sagt sie.
Trotz der Schmerzen muss Isabella leise lachen. Es klingt etwas gequält. Ganz schön schlagfertig, diese Danni. »Heißt du echt so?«, fragt sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Das Mädchen scheint sich ein wenig zu entspannen, lässt Isabellas Arm los und zuckt mit den Schultern. Sie lächelt sogar ein bisschen. Aber sie sieht dabei trotzdem traurig aus. »Ja, klar. Oder glaubst du etwa, ich denk mir das aus? Aber bevor wir hier höflich werden und uns gegenseitig vorstellen: Willst du dir nicht mal irgendwas um dein Bein wickeln?« Sie deutet mit dem Finger auf den roten Fleck in Isabellas Hose. »Das sieht nämlich nicht so dolle aus.«
»Mmh«, sagt Isabella und schaut sich um. »Hier sieht’s aber auch nicht so dolle aus.«
Überall liegen Matratzen und alte Decken. Leere Dosen und Flaschen stapeln sich in den Ecken. Hier haust offensichtlich nicht nur Danni. Jetzt hört Isabella auch wieder die Stimmen von vorhin. Sie kommen von nebenan.
»Sorry«, murmelt Danni. »Die Luxussuite war gerade ausgebucht. Konnte ja nicht ahnen, dass du heute kommst.« Sie schubst Isabella in den Nachbarraum und verscheucht die zwei Jungen und das Mädchen, die dort um einen wackeligen
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