Wir sehen uns in Paris
und ich hätte sie nie beklaut. Das ist nicht meine Art. Außerdem habe ich einfach keine Lust mehr, mich immer von meinen Eltern herumschubsen zu lassen. Sie interessieren sich nur für sich. Wie es ihren Kindern geht, ist ihnen ziemlich egal. Ich muss zu meiner Schwester. Ich muss sie sehen. Jetzt weißt du, warum ich unterwegs bin.«
John hat sich ihr nun wieder zugewendet und schaut sie aufmerksam an. Und Isabella hat sich fast in Rage geredet. Mit geballten Fäusten spricht sie weiter. »Zweitens: Ich heuchle niemals Interesse, bin nicht wie meine Eltern. Oder besser: Ich habe aus ihren Fehlern gelernt. Entweder interessiert mich etwas, dann frage ich. Oder es interessiert mich nicht, dann frage ich aber auch nicht. Alles andere ist reine Zeitverschwendung. Wenn ich dich also bitte, mir von dir zu erzählen, dann meine ich es ernst.«
»Okay, okay, ist ja schon gut. Ich habe verstanden«, lenkt John ein. Er scheint von ihrer kurzen Rede ziemlich beeindruckt zu sein. »Willst du die lange oder die kurze Version von meinem kleinen Leben?« Er versucht ein Grinsen, das ihm aber nicht ganz gelingt.
»Mir egal«, seufzt Isabella. »Ich will nur alles verstehen. Okay?«
»Nimm mir mein Misstrauen nicht übel.« John schaut sie von der Seite an. »Immer, wenn sich jemand für mein Leben interessiert, habe ich anschließend die Polizei, das Jugendamt oder irgendwelche Mistkerle am Hals, die mir nachstellen. Also halte ich lieber den Mund. Ich bin sowieso der Meinung, dass ich allein besser klarkomme.«
»Und wie sieht das deine Familie?«, hakt Isabella nach.
»Meine Familie …«, murmelt John. »Das war einmal. Eigentlich komme ich aus Saarbrücken. Wir waren eine total normale Familie: Mama, Papa, meine Schwester Marie und ich. Mama war Hausfrau und immer für uns da. Papa hatte einen guten Job als Ingenieur. Also nichts mit schwieriger Kindheit. Als ich zehn Jahre alt war, wurde Mama krank. Krebs.« Johns Miene verdüstert sich. »Es ging alles ganz schnell: Krankenhaus, Chemo, Pflege zu Hause, wieder Krankenhaus, Metastasen, Chemo. Und dann war sie tot.«
Isabella hält die Luft an. Sie schämt sich, dass sie ihn so angeschnauzt hat.
»Nach dem Tod meiner Mutter hat Papa angefangen zu trinken. Er verlor seinen Job. Ich habe getan, was ich konnte. Habe mich um Marie gekümmert, Schule, Haushalt, Papa. War alles ein bisschen viel. Irgendwann ist das Jugendamt dahintergekommen und stand bei uns vor der Tür. Marie und ich sind in eine Pflegefamilie gekommen. Nur vorübergehend, hieß es. Doch die Pflegeeltern wollten eigentlich nur Marie, nicht mich. Wenn sie Freunde besuchten, haben sie Marie mitgenommen. Nicht mich. Sie haben Marie gefragt, was sie sich zum Sonntagsessen wünscht. Nicht mich, kein einziges Mal. Marie hat das gemerkt und oft mein Lieblingsessen genannt. Ich hätte heulen können. Mich mussten sie mit aufnehmen, weil es Vorgabe vom Amt war. Geschwister trennt man nicht. Und es gab ja auch Geld dafür.« John hält kurz inne, dann redet er weiter.
»Jedenfalls hat es nicht lange gedauert, bis es zwischen meinen Pflegeeltern und mir nur noch gekracht hat. Ich habe mich wirklich bemüht, schon wegen Marie. Ich liebe meine Schwester nämlich über alles. Die Streiterei war nervig, aber so richtig rund ging es, als ich versehentlich mit dem Rad eine Macke in das Auto meines Pflegevaters geratscht habe. Das Auto ist sein Ein und Alles und er ist total durchgedreht. Er hat mir unterstellt, ich hätte das absichtlich gemacht, so wie ich all meine Frechheiten absichtlich machen würde, nur um ihnen das Leben schwer zu machen. Sie würden schon darüber nachdenken, uns beide wieder zurück ins Heim zu geben, auch, wenn Marie ein Engel sei. An allem sei nur ich schuld. Kannst du dir das vorstellen? Wegen einer verdammten Delle in seinem Auto! Ich hatte keine Chance, ihm irgendetwas zu erklären, ich wollte da nur noch raus.«
Er holt tief Luft. »Dann bin ich abgehauen. Marie sollte nicht wegen mir wieder zurück ins Heim. Nicht wegen so einem Mist. Seitdem telefonieren meine Schwester und ich regelmäßig, fast jeden Tag. Ich rufe sie auf ihrem Handy an. Und wenn ich ihre Stimme höre, weiß ich, dass sie noch da ist und dass es ihr gut geht. Das reicht mir. Aber jetzt … jetzt habe ich sie schon länger nicht mehr gesprochen und bekomme langsam Angst. Ich kann sie einfach nicht erreichen. Wenn ihr etwas passiert ist, nicht auszudenken! … Mich kann niemand erreichen. Es weiß ja niemand, wo ich
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