Wir sehen uns in Paris
bin.« John schüttelt den Kopf, als könnte er selbst gar nicht glauben, dass das wirklich seine Geschichte ist, von der er da spricht. Isabella wagt kaum zu atmen, als er weiterredet.
»Und als du dich mit deiner Freundin über die Fahrkarte unterhalten hast, war das wie ein Sechser im Lotto für mich: Eine Fahrt nach Paris geht immer über Saarbrücken. Ich habe keinen Moment darüber nachgedacht, was ich dir damit antue. Ehrlich gesagt habe ich euch für ziemlich verwöhnte Tussen gehalten, die den Verlust einer Fahrkarte locker verschmerzen können.«
Isabella fühlt sich beklommen. Ihre Wut ist schon längst nicht mehr da. »Bedeutet das, du gehst nicht zur Schule?«, fragt sie mit gedrückter Stimme.
»Ja.« John lacht gequält. »Das bedeutet es. Und das macht mir sehr zu schaffen. Ich bin gern zur Schule gegangen. Na ja, dafür sitze ich jetzt hin und wieder in der Stadtbibliothek, lese Zeitungen, Bücher, alles, was mir in die Finger fällt. Ich habe zwar keinen Ausweis, aber die Leute kennen mich und lassen mich in Ruhe. Also, wenn du denkst, ich sei blöd, irrst du dich.«
»Ich weiß nicht …« Isabella ist misstrauisch. Und gleichzeitig spürt sie, dass das alles stimmt. Was für eine Geschichte!
»Und was hast du in Berlin gemacht?«, fragt sie. »Ich meine, Saarbrücken – Berlin …«
»Ich habe meinen Vater gesucht. Die letzte Spur, die ich von ihm hatte, führte nach Berlin. Zu einem Großmarkt, wo er gejobbt hat. Ich wollte ihn bitten, dass er zurückkommt. Damit wir endlich wieder eine Familie werden. Wenn auch ohne Mama.«
»Du hast ihn nicht gefunden?« Isabella kennt die Antwort eigentlich schon.
»Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Dafür bin ich Harpo und seiner Gang in die Arme gelaufen. Und das war schlimm, sehr schlimm. Drohungen, Erpressungen. Es ging immer um Geld.« Er wischt sich eine Strähne aus der Stirn. »Wurde Zeit, dass ich aus Berlin verschwinde. Harpo ist gefährlich.« Und nach einer Pause fügt er hinzu: »Auf jeden Fall haben wir etwas gemeinsam: Wir sind beide auf dem Weg zu unseren Schwestern.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragt Isabella leise.
»Meinst du, du könntest mir ein wenig vertrauen?«, fragt John genauso leise. Er mustert Isabella eindringlich.
Bevor sie etwas antworten kann, hören sie die Durchsage: »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Hannover Hauptbahnhof …«
Isabella hat sofort Herzklopfen. Hannover. Wie geht es jetzt weiter?
Hannah wälzt sich von einer Seite auf die andere. Sie möchte endlich einschlafen, aber sie ist so voller Unruhe. Dabei ist doch bis jetzt alles glatt gelaufen. Astrid hat nicht wieder angerufen. Isabella sitzt im Zug und in ein paar Stunden ist alles vorbei. Ihr geht es gut. Sie kommt sicher an.
Warum wird Hannah trotzdem das quälende Gefühl nicht los, dass da etwas sehr, sehr schlecht gelaufen ist? Weil Isabella nicht anruft? Ja, vielleicht. Weil der Junge ihre Tasche gestohlen hat? Ja, vielleicht. Der Junge klaut Isabella die Fahrkarte und schon läuft alles anders als geplant. Oder doch nicht?
Hannah fühlt sich wie in einer endlosen Gedankenspirale gefangen. Sie dämmert zwar ab und zu kurz ein, schreckt dann aber wieder hoch. In ihrem Zimmer ist es außerdem unerträglich warm. Draußen regt sich kein Lüftchen. Ihre dünne Bettdecke liegt zusammengeknüllt am Fußende.
Plötzlich steigen Bilder in Hannahs Kopf auf. Isabella und sie im Dreck, Isabella und sie im Blitzlicht.
Was war das? Hannah fährt verwirrt aus ihrem Halbtraum hoch. Sie sieht, wie ihre Vorhänge sich in einem wilden Tanz bewegen. Zuckende Lichter. Dann wieder ein Knall, dumpf und grollend. Die drückende Schwüle hat sich verzogen und ein Gewitter zieht auf.
Hannah setzt sich ans Fenster und schaut hinaus in den Hof. Ein Windstoß fährt ihr ins Haar. Sie liebt Gewitter. Im Wind biegen sich die Äste der Kastanie. Taghelle Blitze zucken in bizarren Formen über den nächtlichen Himmel. Rums! Donner folgt schon auf Donner. Es grollt gewaltig. Durch das Brausen des Unwetters hört sie plötzlich die Haustürklingel. Jemand läutet Sturm.
Hannah fährt zusammen und sieht auf die Leuchtziffern ihres Weckers. 22:45 Uhr. Wer klingelt denn jetzt noch?
Bestimmt sind das Mama und Papa, versucht sie sich schnell selbst zu beruhigen. Sie kommen von der Geburtstagsfeier nach Hause und haben ihren Schlüssel vergessen. Aber dann hätten sie vorher angerufen. Bestimmt! Schließlich wollen sie nicht, dass Hannah
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