Wir sehen uns in Paris
nachts vor die Tür geht. Hannah öffnet ihre Zimmertür und tappt in den Flur. Sie traut sich kaum weiterzulaufen.
Ben kommt aus seinem Zimmer und murrt schlaftrunken: »Wer ist da denn?«
Hannah zuckt mit den Schultern. Wieder schrillt die Klingel. Lang, lang, lang, kurz, kurz. Wie ein geheimer Code.
Hannah drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Hallo, wer ist da?«, ruft sie.
Der Wind antwortet und der Donner. Von unten hört sie erst nur ein undeutliches Rauschen, dann eine gehetzte Stimme, heiser und aufgeregt. Es ist Astrid!
»Hannah«, ruft sie, »mach sofort die Tür auf! Ich muss zu Isabella!«
Hannah trifft es wie ein Schlag. Notgedrungen öffnet sie die Tür.
Astrid stürmt die Treppe hoch, die Haare völlig zerzaust, ihre Lippen sind blass. Sie ist klatschnass und trägt ein seltsames Bündel unter ihrer Jacke. An Hannah vorbei rast sie in die Küche, dann in Hannahs Zimmer. Aber da ist natürlich keine Isabella. Astrid reißt die Bettdecke zur Seite und starrt auf Hannahs leere Matratze.
»Wo ist Isabella?«, fragt sie tonlos und hält Hannah das Bündel unter die Nase. »Wo ist Isabella?«, wiederholt sie. »Hannah, mach endlich den Mund auf.«
Jetzt erkennt Hannah auch, was Astrid da in den Händen hält: Es sind die Klamotten, die Isabella heute Morgen in der Schule getragen hat. Sie muss sich nach dem Überfall und der Verfolgungsjagd zu Hause umgezogen haben.
Astrid breitet die Kleidungsstücke auf dem Boden aus. Die Jeans ist blutverschmiert! Am Oberschenkel klafft ein breiter, ausgefranster Riss. Das schwarze T-Shirt hat Schmutz und Blutflecken. Die Hälfte der Strasssteinchen ist abgemäht.
Hannah hat das Gefühl, dass die Wände ihres Zimmers sich in Bewegung setzen und der Boden unter ihren Füßen schwankt.
»Wo ist Isabella?« Astrids Frage wiederholt sich, wird beinahe bedrohlich. Sie fasst Hannah jetzt heftig am Oberarm und schüttelt sie. Das tut weh, aber sie lockert ihren Griff nicht. »Hannah, wo ist Isabella?« Dabei betont sie jede Silbe jetzt so deutlich, als könne sie ihre Tochter damit herbeilocken.
»Was ist denn hier los?« Das ist Papas Stimme. Fast wie eine Erscheinung. Wo kommt der denn auf einmal her? Und Mama ist auch da.
»Was ist hier los?«, fragt er noch einmal und sieht dabei von Astrid zu Hannah.
»Isabella ist weg und Hannah lügt mich an«, antwortet Astrid mit tonloser Stimme. »Isabella ist etwas passiert. Hier, diese blutverschmierten Sachen habe ich in der Waschmaschine gefunden.« Sie hält die schmutzige Jeans anklagend hoch. Ihre Stimme überschlägt sich. Sie beugt sich vor und fängt plötzlich an zu schluchzen. »Ich will endlich wissen, was passiert ist. Warum lügt Hannah mich an? Sie hat mir gesagt, dass Isabella hier schläft.«
»Jetzt mal der Reihe nach«, sagt Papa. Er hat den Ernst der Lage erkannt und fasst Hannah an den Schultern. »Hannah, kannst du bitte den Mund aufmachen?«
Hannah spürt die Ruhe, aber auch die Angst in seiner Stimme. Sie versteht nichts mehr. Was war am Nachmittag los? Da muss etwas passiert sein. Hoffentlich geht es Isabella gut!
»Aber Isabella saß doch im Bus!«, beginnt sie stotternd. »Ich-ich habe sie selbst gesehen. Sie fuhr zum Bahnhof. Es war alles in Ordnung. Isa hat dem Jungen doch die Fahrkarte wieder abgenommen und jetzt sitzt sie im Zug nach Paris.«
»Nach Paris?« Astrid stöhnt auf.
»Langsam, Hannah. Du musst der Reihe nach erzählen«, mahnt Papa. »Wir verstehen sonst nichts.«
Mit krächzender Stimme flüstert Hannah: »Isabella ist im Zug unterwegs zu Clara.« Endlich ist es raus! Aber sie hat Isabella verraten. War das falsch? Nein. Da sind doch die blutigen Sachen. Sie muss reden. Und zwar jetzt, auf der Stelle.
»Unterwegs zu Clara?«, fragt Astrid. »Erzähl weiter! Wa rum? Und du hast es gewusst.« Das ist keine Frage von Astrid, sondern klingt wie eine Anklage. Doch dann besinnt sie sich und ihre Stimme klingt fast flehend: »Erzähl, Hannah. Erzähl alles, was du weißt.«
»Mhm, ja«, sagt Hannah und räuspert sich, um das Krächzen in ihrer Stimme wegzubekommen. Sie ist immer noch verwirrt. Denn das Blut, woher kommt das Blut an Isabellas Hose? Das ist etwas, das ihr Angst macht.
»Isabella hat die Reise zu Clara geplant, weil sie so enttäuscht war, als Clara nicht kommen durfte, selbst an ihrem Geburtstag nicht. Und sie hat mich gebeten, nichts zu sagen – bis morgen früh, wenn sie in Paris ist.« Hannah beißt sich auf die Lippen. Auch Mama und Papa sehen
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