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Wir sehen uns in Paris

Wir sehen uns in Paris

Titel: Wir sehen uns in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Kolloch Elisabeth Zöller
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die Geldbörse vorzuzeigen und der Schaffner sie nicht ernst nimmt? Es ist hoffnungslos!

Aus dem Augenwinkel betrachtet John das Mädchen. Schau sie dir an, sagt er immer wieder zu sich selbst. Oder ist es sein schlechtes Gewissen? Von dem Ausweis in ihrem Portemonnaie weiß er, dass sie Isabella heißt. Sie sieht mitgenommen aus. Nicht mehr so strahlend frisch wie heute Mittag, als er ihr die Tasche wegriss. Eher etwas heruntergekommen. Das T-Shirt knitterig, die Haare ungekämmt. Es entgeht seiner Aufmerksamkeit auch nicht, dass sie offensichtlich gar nichts bei sich hat: keinen Rucksack, keinen Koffer – nichts.
    Und ihr Mut, ihr Auftreten. So viel Entschlossenheit erinnert ihn an sich selbst. Ob etwas mit ihrer Schwester passiert ist? Dann wäre es doch mies, dass er ihr die Tasche weggenommen hat. Aber er muss doch zu seiner kleinen Schwester. Verflixt. Aber sie zu ihrer vielleicht auch. Vielleicht genauso dringend.
    John schiebt jeden Gedanken an ein schlechtes Gewissen beiseite. Das kann er sich nicht leisten. Und überhaupt. Was regt sie sich auf? Warum kauft sie sich nicht eine neue Fahrkarte? Er würde wetten, dass sie sich das leisten kann. Stattdessen verfolgt sie ihn erst quer durch die Stadt und jetzt auch noch quer durch Deutschland. Sie ist in sein Leben geflattert und lässt ihn nicht los. So sind die Tatsachen.
    John , mahnt er sich selbst, bloß keine Gefühle . Das hat er auf der Straße gelernt, keine Gefühle hochkommen zu lassen. Und das Mädchen neben ihm hat doch keinen blassen Schimmer von dem Leben da draußen.
    Aber er fühlt sich doch plötzlich unbehaglich. Als sei er hier falsch: im falschen Film, im falschen Zug, im falschen Leben. Dabei ist es sein Film, sein Zug und sein Leben. Mehr hat er nicht. Trotzdem fühlt er sich schäbig. Auch weil er sieht, wie hilflos dieses Mädchen vor ihm steht. Aber er kann sich auch nicht in Luft auflösen und so weiterreisen.
    Und dann hört er ihren Magen rumoren. Laut. Ziemlich laut. Er kaut lustlos an seinem Käsebrötchen weiter. Klar, im Moment hat er die besseren Karten. Aber nur bis Saarbrücken. Dann geht das alte Elend wieder von vorne los: Pflegefamilie oder Straße, beides schlimm, nur sehr unterschiedlich.
    John lächelt trotzdem und schaut wieder zu Isabella hoch. Sie erwidert seinen Blick, mit verschränkten Armen vor der Brust.
    »Komm, setz dich wieder«, sagt er und deutet auf den Platz neben sich. »Ich heiße übrigens Johannes. Kann mich aber nicht erinnern, dass mich jemand in letzter Zeit so genannt hat. John ist okay. Alle nennen mich so. Nicht Johnny, das klingt total albern.«
    »Ich glaube nicht, dass mich das wirklich interessiert«, knurrt Isabella, und wieder meldet sich ihr Magen laut.
    »Hört sich an, als hättest du schon lange nichts mehr zu essen bekommen.« Er zeigt dabei auf ihren Bauch. Und er hat recht, denn als er ihr nun die Brötchentüte und seine Wasserflasche reicht, setzt sie sich zu ihm und greift gierig nach einem Brötchen. Das ging glatter, als John gedacht hätte. Bei der Wasserflasche zögert sie einen Moment.
    »Sorry, hab ich schon draus getrunken. Konnte ja nicht wissen, dass Gäste kommen. Aber keine Sorge, ich habe weder Pest noch Cholera«, sagt er und lächelt sie an.
    »Nee, aber du bist wie Pest und Cholera.« Isabella spricht mit vollem Mund und mustert ihn wütend. Aus Versehen spuckt sie ein paar Krümel aus.
    John klopft sich das Hosenbein ab und grinst sie herausfordernd an. »Was ist das denn für ein Benehmen? Sprichst mit vollem Mund und spuckst mich an …« Weiter kommt John nicht, denn Isabella starrt ihn an, als hätte er sie nicht mehr alle.
    »Was laberst du denn da für einen Schwachsinn? Schlechtes Benehmen? Spinnst du?«, fällt sie ihm wütend ins Wort. »Aber dass du mich beklaust, das ist völlig korrekt, kein schlechtes Benehmen, oder was?«
    John muss sich ein Grinsen verkneifen. Irgendwie ist diese Isabella doch ganz in Ordnung und gar nicht so eine Tussi, wie er am Anfang dachte. Wenn der was nicht passt, macht sie den Mund auf. Das gefällt ihm und gleichzeitig meldet sich auch sein schlechtes Gewissen wieder.
    Darum murmelt er: »Kann dich verstehen. Doch glaub mir, ich habe Gründe. Auf mich wartet auch eine kleine Schwester. Dein Geld kannst du zurückhaben. Hab mir bloß den Comic, Pommes, Cola, Döner und die Brötchen gekauft.« Er zieht das Portemonnaie aus seiner Tasche und gibt es ihr zurück.
    Sie reißt es ihm aus der Hand, schaut aber nicht hinein.

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