Wir sehen uns in Paris
Kontrolleur sagt lächelnd: »Das ist überhaupt kein Problem. In Hannover begleite ich dich in den anderen Zug.« Er wendet sich zum Gehen, dreht sich jedoch nach ein paar Schritten noch einmal zu Isabella um. »Weiß denn deine Mutter, dass du hier sitzt? Hat sie mitbekommen, dass du den Zug noch erwischt hast? Oder soll ich drüben Bescheid geben?« Er hat das Handy schon in der Hand, die Finger schweben über den Tasten.
Isabellas Herz pocht noch lauter. »Nein, nein«, ruft sie und hofft, dass sie nicht panisch klingt. »Das ist nicht nötig. Ich habe sie schon mit meinem Handy benachrichtigt. Aber vielen Dank.«
Der Schaffner nickt. »Alles klar. Dann noch gute Fahrt. Wenn ihr nicht weiter auf dem Boden sitzen wollt: Weiter vorne sind noch Plätze frei.«
Endlich, endlich dreht er sich um und verschwindet durch die Glastür.
Isabella lehnt sich an die Zugwand und atmet erst einmal tief durch. Das war knapp. Als die Anspannung von ihr abfällt, wird sie plötzlich wieder wütend auf John. So viel Stress und das alles nur wegen ihm! Als sie Johns selbstzufriedene Miene sieht, fährt sie auf. »Erwarte jetzt bloß kein Danke von mir! Du hättest mir auch einfach meine Karte zurückgeben können.«
»Ach, komm«, antwortet John und grinst immer noch. »Du musst zugeben, das war eine super Idee von mir. Gut, dass du es sofort begriffen hast. Und die Fahrkarte hätte dir mit meiner Einverständniserklärung sowieso nichts genutzt.«
»Soll das heißen, du hättest sogar behauptet, ich hätte dir die Fahrkarte geklaut?« Isabella kann es kaum fassen. »Soll ich dir etwa noch dankbar sein?«
»Irgendwie schon, finde ich«, meint John. »Immerhin haben wir jetzt bis Hannover unsere Ruhe.«
Isabella klappt den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber sie ist zu verwirrt. Eigentlich hat er ihr wirklich geholfen, eine glaubhafte Geschichte für den Schaffner zu erfinden. Trotzdem. Er hat sie überhaupt erst in den Schlamassel gebracht! Er muss ihr einfach die Fahrkarte herausrücken. Bis Hannover hat sie immerhin Zeit. Und dann?
So sitzen sie lange nebeneinander und schweigen. Isabella lauscht den Geräuschen des Zuges. Das beruhigt, schläfert ein. Und sie merkt, dass sie neben ihm sitzen und völlig gelassen bleiben kann. Ihre Wut ist irgendwie langsam verraucht. Plötzlich fühlt es sich so an, als könnte ihr einfach nichts passieren, und das ist für sie ziemlich okay.
»Was hast du eben damit gemeint: In deinem Leben gäbe es nicht viel Lustiges?«, fragt Isabella schließlich in das Schweigen hinein. »Ich habe den Eindruck, das Leben macht dir ganz schön viel Spaß. Heute hier, morgen da, keine Regeln, keine Verbote.«
Als er nicht gleich antwortet, linst sie vorsichtig zu ihm hinüber. Er schläft nicht, schaut nur vor sich auf den Boden. Und sie sieht, dass sein Gesicht ernst ist.
»Na ja«, sagt er, »manche Leute sind nun mal zu so einem Leben gezwungen.«
Isabella wendet sich zu ihm hin und versucht, bequemer zu sitzen. Aua! Ihr Bein schmerzt bei jeder Bewegung.
John schaut hoch. »Hast du dich verletzt?«, fragt er.
»Ach, nicht so wichtig«, meint sie. Sie weiß selbst nicht, warum sie ihm nicht sagt, dass er auch an ihrer Verletzung Schuld hat. Vielleicht hat sie einfach keine Energie mehr, sich noch weiter zu streiten. Stattdessen sagt sie: »Erzähl mir von dir. Wozu sind manche Leute gezwungen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich mein Leben wirklich interessiert.« Seine Stimme klingt wieder gereizt. »Für dich ist doch nur wichtig, dass du zu deiner Schwester nach Paris kommst. Also verschone mich bitte mit deinem geheuchelten Interesse. Du kommst nach Paris. Dafür werde ich schon sorgen.« Er dreht sich weg.
Das war wie eine Ohrfeige. Isabella starrt ihn enttäuscht an. Schon klar, er hält sie für eine verwöhnte Prinzessin. Aber er weiß gar nichts über sie. Und so einfach lässt sie sich nicht provozieren. John wird sehen, dass sie in keine seiner Schubladen passt. Sie ist nicht das verwöhnte kleine rosa Mädchen.
Nach einer Weile sagt sie darum mit ruhiger Stimme: »Zwei Dinge solltest du von mir wissen. Erstens: Ja, ich möchte unbedingt zu meiner Schwester Clara. Ich habe sie lange nicht gesehen und habe Sehnsucht nach ihr. Und E-Mails und Telefon sind kein Ersatz für richtige Besuche. Clara geht es schlecht. Ich muss ihr helfen. Dafür habe ich mein gesamtes Erspartes in diese Fahrkarte investiert. Jeder Cent war meiner. Meine Mutter hätte mir das Geld nie gegeben
Weitere Kostenlose Bücher