Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halldór Gudmundsson
Vom Netzwerk:
eines Entwicklungslandes. Island war wieder ein armes und isoliertes Land geworden. Die Neureichen schienen alle verschwunden. Die Bevölkerung war im Schock.

Musste das Finanzsystem zusammenbrechen?
    Auf seinem Gesicht war etwas, wie es auf den
Gesichtern der Kinder ist, die sich hartnäckig
weigern, ihren Glauben an den Weihnachtsmann
aufzugeben, obwohl die Argumente der Spiel-
kameraden so überzeugend klingen.
    Heinrich Böll: Es wird etwas geschehen – eine handlungsstarke Geschichte

    In den ersten sechs Wochen nach dem Sturz der Banken folgten die Isländer wie gebannt den Versuchen ihrer Regierung, im Ausland einen Kredit zu bekommen und gleichzeitig im Lande selbst ein minimal funktionierendes Bankenwesen aufrechtzuerhalten. Ausländische Währung war nirgendwo zu kriegen, der Import brach fast vollständig zusammen, die ehemals so breit aufgestellten Autoimporteure beispielsweise mussten einer nach dem anderen dichtmachen. Man merkte es im Großen wie im Kleinen, und es hat Auswirkungen bis heute: Seit dem Kollaps können Isländer kaum noch deutsche Magazine wie etwa den Spiegel in ihren Buchhandlungen erwerben, denn der Großhandel vergibt keine Kredite mehr an uns. Prunkvolle Möbelgeschäfte machten zu, die Handelskette Bauhaus, die sich am Rande von Reykjavík ein riesiges Haus gebaut hatte, verschob die Eröffnung einer Filiale auf unbestimmte Zeit; viele ausländische Waren verschwanden aus den Regalen.
    Ausländische Anleger, die isländischen Banken ihr Geld anvertraut hatten, verloren eine Unmenge davon – nicht anders jedoch erging es vielen Isländern, die ihre Ersparnisse nicht auf einfachen Sparkonten deponiert hatten, sondern etwas abenteuerlustiger gewesen waren. Auch sie mussten Verluste einstecken. Das galt sowohl für jene Rentner, die ihr Geld in Aktien oder verschiedene Fonds gesteckt hatten, wie auch für junge Familien, die sich von ihrer Bank zur Teilnahme am isländischen
Finanzabenteuer hatten überreden lassen. Natürlich traf es auch die Eigentümer der Banken selbst. Eine nach der anderen gingen diese Holding Companies, deren Namen die Isländer sich gerade erst zu merken begannen, bankrott. Und viele dieser Firmen hatten ja noch andere Interessen: besaßen auf Island Versicherungen oder Zeitungen, Supermärkte oder Immobilien. Inzwischen sind fast alle Unternehmen, die Björgolfur Gudmundsson auf Island kontrollierte, in Insolvenz – selbst die englische Fußballmannschaft West Ham hat er verloren. Baugur-Group, die größte Handelsfirma, die Island je gesehen hatte, ging Anfang März 2009 bankrott.
    Am schlimmsten traf es zunächst die Baubranche. Seit Jahren glichen große Teile von Reykjavík einer permanenten Baustelle, überall wurden neue Häuser errichtet, Straßen gebaut, Stadtviertel geplant. Mit einem Mal kam das alles zum Halt. Einen Monat nach dem Sturz der Banken verloren fast dreihundert Isländer täglich ihren Job, und das in einem Land, das zwanzig Jahre lang kaum Arbeitslosigkeit gekannt hatte; im Gegenteil importierte man seit Jahren Arbeitskräfte, hauptsächlich aus Polen und Litauen. Vor dem Kollaps lag die Arbeitslosigkeit bei zwei Prozent, im März 2009 hatte sie bereits zehn Prozent erreicht. Die Inflation stieg rapide auf achtzehn Prozent, die Leitzinsen der Zentralbank waren höher als in irgendeinem anderen westeuropäischen Land. Die Krone fiel entsprechend: Konnte man im Herbst 2007 noch einen Euro für neunzig Kronen kaufen, kostete er ein Jahr später mehr als das Doppelte. Das traf besonders die Familien, die zum Kauf ihres schönen Autos oder neuen Hauses einen Kredit in ausländischer Währung aufgenommen hatten, wie von den isländischen Banken vielfach angeboten. Die Immobilienpreise
verfielen. Die Hypothek war plötzlich viel höher als der Wert des Hauses. Nach Informationen der Zentralbank vom 11. März 2009 überstiegen zu diesem Zeitpunkt bereits die Schulden von dreißigtausend Familien den Wert ihres Heims.
    In den ersten Wochen nach dem 6. Oktober 2008 trauten viele Isländer ihren Augen nicht. Konnten sie vor kurzem noch in Kopenhagen und London herumspazieren und stolz auf »ihre« Geschäfte und Hotels zeigen, nahmen nun viele dänische Geschäfte keine isländischen Kreditkarten mehr an, in England schlug ihnen manchmal gar offene Feindseligkeit entgegen. Um Haaresbreite, so eine der unzähligen Geschichten aus diesen chaotischen Tagen, wäre eine Maschine von Icelandair auf Heathrow festgesetzt worden, weil die

Weitere Kostenlose Bücher