Wir sind alle Islaender
Höflichkeit ertragen als die Isländer. Jahrhundertelang und bis zum heutigen Tag haben sie in verständnisvoller Fried fertigkeit gegenüber der Unterdrückung gelebt, ohne jemals den Versuch zu machen, sich dagegen aufzulehnen. Keinem Volk ist der Gedanke an eine Revolution so fremd.
Halldór Laxness: Die Niederlage der italienischen
Luftflotte 1933 in Reykjavík (1935)
Vor dem Parlamentsgebäude, einem schönen Steinbau, den noch immer die dänische Königskrone schmückt, liegt der Hauptplatz von Reykjavík, Austurvöllur genannt. Mitten auf dem Platz steht eine Statue des Vorkämpfers der isländischen Selbständigkeit, Jon Sigurdsson, der sich im 19. Jahrhundert mit dänischen Beamten stritt und den Isländern Mut und Selbstvertrauen einflößte. In diesem Werk des Bildhauers Einar Jonsson fasst sich Jon mit beiden Händen an die halboffene Jacke und blickt stolz auf das Parlamentsgebäude. Die Statue des Volkshelden wurde ursprünglich 1911, hundert Jahre nach seiner Geburt, vor dem Regierungsgebäude aufgestellt, aber zwanzig Jahre später schaffte man sie dann zum Austurvöllur. Von dort hat Jon Sigurdsson die meisten isländischen Demonstrationen und Proteste überblicken können. Dabei wären ihm zweimal die Tränen gekommen, wenn er denn hätte weinen können, denn zweimal hat die Polizei dort Tränengas angewendet. Zum ersten Mal am 30. März 1949, als Tausende von Isländern gegen den Beitritt des Landes zur NATO protestierten, darunter Kommunisten, aber auch Pazifisten und Patrioten, die Island als neutralen Staat sehen wollten, und darüber hinaus all jene, die die amerikanische Militärbasis loswerden wollten. Es kam zu heftigen Schlägereien mit der Polizei, die sich am Ende genötigt sah, Tränengas einzusetzen. Das erste Mal in der Geschichte Islands. Sechzig Jahre blieb alles ruhig, bis die isländische Obrigkeit in der
Nacht zwischen dem 21. und 22. Januar 2009 erneut zu dieser Waffe griff.
So friedfertig waren die Isländer zuvor gewesen, trotz Kaltem Krieg, einem etwas aufgeheizteren Fischereikrieg, Studentenunruhen und dem dauernden Streit über die US-Basis (bis 2006 die amerikanischen Streitkräfte von sich aus einfach das Land verließen). Richtige Krawalle waren rar. Umso bemerkenswerter sind die vielen Proteste seit dem Kollaps der Banken. Schon am Samstag, dem 11. Oktober 2008, fand eine erste Kundgebung auf Austurvöllur statt. Noch wusste man zwar nicht richtig, gegen was man eigentlich protestierte – die Parole des Aufrufs hieß schlicht: »Vereinigte Front gegen die Zustände«. Initiator der Proteste war Hördur Torfason, Sänger und Poet und vor vielen Jahren tapferer Wegbereiter der Rechte der Homosexuellen auf Island. Er nannte seine lose Organisation »Die Stimmen des Volkes«, und bis zum 14. März 2009 hielt sie neunundzwanzig Kundgebungen auf Austurvöllur ab.
Die Stimmung in der Bevölkerung war von Schock und Angst geprägt, aber allmählich strömten immer mehr Leute zu den Demonstrationen am Samstagnachmittag, die Reden wurden lauter, die Forderungen deutlicher. Im November verlangte man den Rücktritt der Direktoren der Zentralbank und der Finanzaufsicht, da sie versagt hätten, und außerdem möglichst schnelle Neuwahlen. Seit 2007 war eine große Koalition aus der rechten Unabhängigkeitspartei und den Sozialdemokraten an der Macht, und nach den ersten Rettungsversuchen im Oktober und November 2008 wollten viele Isländer grö ßere Änderungen sehen. Nicht zuletzt hoffte man darauf, dass irgendjemand auf öffentlicher Seite die Verantwortung für die
Misere übernahm. Schließlich breiteten sich die Proteste bis nach Akureyri im Norden des Landes aus, und einzelne, meist junge Anarchisten traten auch vermummt auf – eine wirkliche Seltenheit auf Island; am 22. November gab es Krawalle vor dem Polizeigebäude in Reykjavík, als um die dreihundert junge Leute gegen die Verhaftung eines ihrer Kameraden protestierten.
Ende November war noch keiner der Verantwortlichen zurückgetreten, und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs. Jetzt wurde auch die Forderung nach dem Rücktritt der gesamten Regierung laut. Neue Bürgerbewegungen entstanden, man hielt Versammlungen in Theatern und Kinosälen ab, wobei man auch den Politikern der Regierungsparteien die Chance gab, sich zur Wehr zu setzen. Die Diskussionen waren hitzig. Die Sozialdemokraten wurden heftig dafür kritisiert, nicht früher auf die Gefahrensignale reagiert zu haben, David Oddsson als
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