Wir sind die Nacht
enttäuscht, die Fahrt jetzt nur noch mit - wenn auch verkehrswidrig - knappen neunzig Stundenkilometern fortsetzen zu können.
»Es … ähm … gibt eine Stadtautobahn, wenn du dein neues Spielzeug mal richtig ausprobieren willst«, sagte Nora. Sie klang ein bisschen nervös.
»Liegt aber nicht auf dem Weg«, antwortete Lena nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm des Navis. »Wohin fahren wir überhaupt?«
Sie gab ein bisschen mehr Gas, so dass der Ferrari beinahe das Heck des vorausjagenden Jaguar berührte, und spielte hektisch mit der Lichthupe. Durch die abgedunkelte Heckscheibe des Jaguars konnte sie schemenhaft erkennen, wie die Gestalt auf dem Beifahrersitz den Arm hob, um ihr den Mittelfinger zu zeigen.
»Direkt ins nächste Krankenhaus?«, sagte Nora nervös.
»Ich dachte, du fährst gern schnell?«
»Ja, wenn ich selber fahre. Und soviel ich weiß, ist es auch verboten, so tief zu fliegen. Jedenfalls im Stadtgebiet.«
Lena lachte leise, nahm den Fuß vom Gas und vergrößerte den Sicherheitsabstand zum Jaguar so weit, dass dessen Nummernschild wieder zu sehen war. Nora atmete hörbar durch.
Zehn Minuten später bog Louise von der Straße ab und steuerte einen großen, dunkel daliegenden Gebäudekomplex an. Auf kreischenden Reifen rasten die beiden Wagen die Abfahrt in eine Parketage hinunter, die mindestens zwanzigmal so groß wie die des Hotels, abgesehen von einem altersschwachen Golf Cabriolet aber leer war.
»Was genau tun wir hier?«, fragte Lena. »Nach dem Flughafen sieht das nicht aus.«
»Lass dich doch einfach überraschen.« Nora stieg aus und eilte um den Wagen herum zu Louise und Charlotte. Gut, wenn die drei unbedingt die Geheimnisvollen spielen wollten, dann sollten sie das eben tun. Auch wenn sie es ziemlich albern fand.
Louise klappte gerade ihr Handy zusammen, als Lena neben ihr ankam. »Es ist alles vorbereitet«, sagte sie zufrieden.
»Was ist vorbereitet?«, wollte Lena wissen.
Louise tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Wir haben fünf Minuten, Mädels«, sagte sie. »Also, Beeilung!«
»Fünf Minuten?«, ächzte Nora. »Aber ich habe noch meine Straßenklamotten an!«
»Seit wann brauchst du länger als fünf Sekunden, um dich auszuziehen, Liebchen?«, fragte Charlotte lächelnd.
Louise schüttelte genervt den Kopf und trat an die Wand unmittelbar neben dem Golf. Lena sah erst jetzt, dass dahinter eine offene Liftkabine wartete, die aber nicht sehr vertrauenerweckend wirkte.
»Nur keine Angst«, sagte Louise zwinkernd. »Ist eine Spezialanfertigung für kleine Vampirinnen.«
Die Kabine war erstaunlich groß, und ihre Wände waren nicht verspiegelt, sondern bestanden aus gebürstetem Aluminium. Charlotte zündete sich eine Zigarette an, während die Kabine nach oben fuhr. Die Klimaanlage unter der Decke begann protestierend zu summen.
Ein paar Etagen höher kam der Lift zum Stillstand und öffnete sich. Die Szenerie, die sich vor Lena auftat, kam ihr auf gespenstische Art vertraut vor: ein schmaler, nahezu leerer Gang mit weiß gestrichenen Wänden und schummeriger Beleuchtung, nur dass die Gestalt, die ihnen entgegenkam, deutlich jünger war als der Wachmann im Kaufhaus und keine Uniform trug, sondern Jeans, Turnschuhe und ein sportliches Hemd.
»Marcus!« Louise ging dem Mann mit weit ausgebreiteten Armen entgegen. Er erwiderte die Geste und begrüßte sie dann mit einem formvollendeten Handkuss.
»Madame Louise, es ist mir wie immer eine Ehre, Sie und Ihre Freundinnen begrüßen zu dürfen. Es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit vorbereitet.«
Lena fragte sich, wie viele Hundert Jahre alt der Kerl wohl war, so gequirlt, wie er daherredete, aber Louise schien keinerlei Anstoß daran zu nehmen. Sie lächelte geschmeichelt.
»Ich habe nichts anderes erwartet, Marcus«, sagte sie. »Zwei Stunden, wie immer?«
»So lange Sie wünschen, meine Liebe«, antwortete Marcus. Er nötigte Louise einen weiteren Handkuss ab, verbeugte sich tief genug, um fast die Gesetze der Physik ad absurdum zu führen, und wandte sich dann mit unverhohlener Neugier zu Lena um. »Ein neues Familienmitglied, meine Liebe?«
»Zieht der gleich ein Taschentuch mit Rüschen raus und macht einen Hofknicks?«, flüsterte Lena.
Sie war sich sicher, dass die drei anderen sie verstanden hatten, aber keiner reagierte.
»Das hoffe ich doch«, sagte Louise zu Marcus. »Im Augenblick möchten wir Lena einfach nur Ihr wundervolles Etablissement zeigen, Marcus.«
»Lena.« Marcus
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