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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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zurück und kam sich plötzlich irgendwie hilflos vor. Wieso hatte ihr dieses Mädchen nicht leidgetan? Sie hatte ihm einen Schrecken versetzt, an dem es vielleicht für den Rest seines Lebens knabbern würde, aber da war kein schlechtes Gewissen.
    Um auf andere Gedanken zu kommen, wandte sie sich der Tür auf der anderen Seite zu, und Charlotte sagte: »Das ist keine gute Idee. Es sei denn, zwei Tage Unsterblichkeit wären dir schon zu lang.«
    Lena blickte fragend, worauf Charlotte die Tür öffnete, indem sie ihre Zimmernummer in die Tastatur daneben eintippte. In dem spärlich eingerichteten Raum ging automatisch sanftes Licht an. Es gab einige einfache Bänke, einen in die Wand eingelassenen überdimensionalen Flatscreen und ein schmales Regal mit Handtüchern, Gummilatschen und einem halben Dutzend sonderbarer Brillen, die anstelle von Gläsern undurchsichtige Plastikkappen hatten.
    »Hier solltest du auf keinen Fall reingehen.« Charlotte deutete nacheinander auf Wände und Decke, wo zahlreiche meterlange Leuchtstoffröhren befestigt waren.
    »Ist das ein … Solarium?«, fragte Lena.
    »Die Luxusausführung«, antwortete Charlotte. »Der ganze Raum ist eine Sonnenbank, nur dass du keinen Deckel herunterklappen musst.« Sie deutete noch einmal auf die Leuchtstoffröhren und schloss die Hand zu Faust. »Wenn du die Dinger einschaltest, hast du noch zwei Sekunden, oder vielleicht auch drei, und dann …« Sie öffnete die Finger explosionsartig. »Wusch! Keine sehr angenehme Vorstellung.«
    Dem konnte Lena kaum widersprechen. Sie war erleichtert, als hinter ihnen eine Tür zufiel und sie Louises Stimme hörte, die ungeduldig zum Aufbruch drängte.
    Nora war noch nicht fertig angezogen, aber Louise scheuchte sie lachend vor sich her und war offensichtlich der Meinung,
dass sie den Rest auch ganz gut im Gehen erledigen konnte. So schrill, wie Nora sich normalerweise zu kleiden pflegte, fiel es ja auch nicht sonderlich auf, wenn das eine oder andere Teil fehlte oder sie es verkehrt herum anzog. Als sie die Schwimmhalle betraten, herrschte am anderen Ende des Beckens immer noch helle Aufregung. Lena war froh, dass sie diesen Ort unbemerkt hinter sich lassen konnten.
    »Wegen heute Morgen«, begann Nora, als sie sich der Verbindungstür zum Parkdeck näherten. »Also, du solltest wissen …«
    »Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt«, fiel ihr Lena ins Wort. »Ich weiß. Tut mir leid. Es war alles ein bisschen viel.«
    »Du?« Nora blieb stehen. Sie sah verwirrt aus.
    »Ich glaube schon, dass ich es war, der du heute Morgen das Leben gerettet hast«, sagte Lena lächelnd.
    Nora blieb ernst. »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe«, sagte sie. »Aber es ging nicht anders.«
    Lena musste tatsächlich einen Moment lang nachdenken, bevor sie begriff, wovon Nora sprach. Sie hatte die lächerliche Ohrfeige längst vergessen.
    »Aber das war doch …«
    »Wir haben nicht viele Regeln, Schatz, aber die erste und oberste lautet, dass wir einander niemals Gewalt antun.«
    »Aber es war doch nur eine Ohrfeige«, sagte Lena.
    »Und ich bedauere sie aufrichtig«, fuhr Nora unbeeindruckt fort. »Aber ich hatte keine Wahl. Das Schwere ist das Aufhören.«
    Lena erinnerte sich jetzt. Noras Blut war wie ein Starkstromschlag gewesen, der sie im Sekundenbruchteil in Brand gesetzt hatte. Sie schauderte, als sie an die rasende Gier zurückdachte, den unbedingten Willen weiterzutrinken. Nora hatte recht: Sie hätte nicht aufhören können.
    »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Unter einer Bedingung.«
    Nora sah sie misstrauisch an.

    »Du bringst es mir bei«, sagte Lena. »Das Aufhören, meine ich.«
    »Dazu musst du erst einmal das Anfangen lernen«, sagte Nora mit solchem Ernst, dass Lena sich nicht nachzufragen traute, was genau Nora damit meinte. Sie rettete sich in ein unsicheres Lächeln.
    Charlotte und Louise waren vorausgegangen und schon im Parkhaus verschwunden, da erklangen auf einmal Schritte von hinten. Nora drehte sich beunruhigt um, aber es war nur der Page, der offensichtlich ein Auge auf sie geworfen hatte. Er wirkte nervös, beinahe schon ein bisschen ängstlich, aber Lena hatte auch selten ein so strahlendes Lächeln gesehen wie jetzt in seinen Augen. Nora hatte ganz eindeutig eine Eroberung gemacht.
    »Bitte verzeihen Sie«, begann er unbeholfen. »Aber ich glaube, dass Sie da etwas verloren haben.« Er streckte die Hand aus und hielt Nora eine einzelne rote Rose hin.
    In der ersten Sekunde wirkte

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