Wir sind die Nacht
auch noch fast genauso weit von der unerträglichen Hitze des Mittags entfernt.
»Na?«, sagte Nora fröhlich. »Haben wir dir zu viel versprochen?«
Lena sagte auch dazu nichts, aber ihr Schweigen allein war schon Antwort genug. Nora lachte hell auf, rannte durch die aufspritzende Brandung und verschwand dann mit einem eleganten Hechtsprung im Wasser. Charlotte schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf, ließ sich in den Sand sinken und zog die Knie an den Körper, um sie mit den Armen zu umschlingen. Augenscheinlich hatte sie wirklich nicht vor, ihr gerade erst frisch aufgelegtes Make-up gleich wieder zu verderben, und war einfach nur mitgekommen, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Lena fragte sich, ob sie es Louise und Nora zu Gefallen getan hatte oder ihretwegen. Von den drei Frauen war
Charlotte noch immer diejenige, aus der sie am wenigsten schlau wurde.
Nora tauchte prustend mindestens zwanzig Meter vom Ufer entfernt auf, winkte ihnen fröhlich zu und verschwand dann pfeilgerade wieder im Wasser; wie eine Tänzerin aus einem Wasserballett der Dreißigerjahre.
»Also, worauf warten wir?«, sagte Louise. »Du wolltest schwimmen gehen, also gehen wir schwimmen. Oder bist du plötzlich wasserscheu geworden?«
Louise watete in die künstliche Brandung hinein, bis sie ihr zu den Hüften reichte, und Lena folgte ihr deutlich langsamer. Nicht weil sie wasserscheu gewesen wäre, sondern um sich aufmerksam umzusehen. Das Wissen, sich nur inmitten einer riesigen Illusion zu befinden, änderte nichts an ihrer überwältigenden Wirkung. Nichts hier - vermutlich bis hin zum Sand - war echt. Der Himmel war ebenso künstlich wie der Horizont, nur eine geschickte Kombination aus bemaltem Kunststoff und Projektionen, erzeugte aber ein Gefühl von Weite, das ihr schier den Atem nahm. Linkerhand erhob sich eine gut zehn Meter hohe Klippe, auf der anderen Seite stürzte ein fast ebenso hoher kristallklarer Wasserfall in die Tiefe, wo er in einer gewaltigen Gischtwolke explodierte.
»Das ist … unglaublich«, murmelte sie beeindruckt.
»Und du hast gedacht, du würdest es niemals sehen«, sagte Louise. »Ich kann dir versichern, dass es beeindruckender als die Wirklichkeit ist. Ich war da.«
Aber es war nicht die Wirklichkeit, dachte sie, und eine sonderbare Trauer ergriff Besitz von ihr. Sie glaubte Louise, aber ob es nun eine Illusion war, die die Wirklichkeit übertraf oder nicht, es blieb eine Illusion, und es kam ihr nicht richtig vor. Sie fragte sich, ob das vielleicht für ihr ganzes, möglicherweise unendliches restliches Leben gelten würde: dass es nichts als eine Illusion war, eine Kopie, die das Original möglicherweise in
jedem Detail übertraf, aber dennoch letzten Endes eine Kopie blieb.
Als spürte sie die finsteren Wolken, die sich hinter Lenas Stirn zusammenballten, lachte Louise plötzlich und bespritzte sie mit Wasser. Lena wollte es ihr mit gleicher Münze zurückzahlen, aber Louise wich dem Schwall mit einer blitzschnellen Bewegung aus und warf sich dann rücklings mit weit ausgebreiteten Amen ins Wasser. »Krieg mich doch!«
Auch wenn Lena klar war, dass sie keine Chance hatte, tauchte sie mit einem Hechtsprung hinter ihr her und schoss unter Wasser dahin wie ein Delfin. Plötzlich packte sie jemand am Arm und zerrte sie unsanft nach oben. Sie wurde ein gutes Stück weit aus dem Wasser geschleudert und fiel mit einem gewaltigen Platschen zurück.
»He!«, protestierte sie. »Das ist unfair!«
Louise tauchte hinter ihr auf, legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie wieder unter Wasser.
Lena hustete, spuckte Wasser und rang verzweifelt nach Luft, und Louise umschlang mit dem linken Arm ihre Hüfte und schlug ihr die andere Hand so hart zwischen die Schulterblätter, dass sie Sterne sah.
»Schon … gut«, japste Lena. »Ich weiß jetzt, wie … sich die Kleine vorhin … im Hotel gefühlt hat.«
Louise paddelte ein kleines Stück von ihr weg. »Wenn ich dich nicht gebremst hätte, dann wüsstest du jetzt, wie sich ein wütender Widder nach einem Zweikampf mit einem Konkurrenten fühlt«, erklärte sie.
Lenas Blick folgte ihrer deutenden Geste.
»Oh«, murmelte sie. Lena hatte das Becken mit ihren wenigen Schwimmzügen nahezu durchquert. Noch wenige Meter, und sie wäre ungebremst gegen die zwar hübsch blau angestrichene, aber dennoch massive Betonwand geknallt.
»Und wir wollen dieses wunderbar klare Wasser doch nicht
mit deinem kostbaren Blut verunreinigen, oder?«,
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