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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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zornig. Sie wollte sich hochstemmen, aber ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Mühsam drehte sie den
Kopf und warf einen Hilfe suchenden Blick zu Charlotte hinauf. Sie saß nur wenige Schritte entfernt mit angezogenen Knien im Sand und blätterte in ihrem Buch. Wahrscheinlich hätte sie nicht einmal in ihre Richtung gesehen, wenn sie auf einem Bein herumgehüpft wäre und dabei eine Opernarie geschmettert hätte.
    »Das war jetzt gerade deine erste Lektion«, sagte Louise. »Du hast sie bestanden, auch wenn du es dir unnötig schwer gemacht hast.«
    »Ja, danke«, grollte Lena. »Ich wollte schon immer mal wissen, wie es sich anfühlt zu ertrinken.«
    »Wir können nicht sterben, Liebes«, sagte Louise sanft. »Wenn du das nächste Mal ins Wasser fällst, dann atme einfach tief ein. Es geht ganz schnell. Und es tut nicht einmal weh, wenn man sich nicht dagegen wehrt.«
    »Du meinst, wir können Wasser atmen?« Warum fragte sie eigentlich? Sie hatte es gerade getan!
    »Abgesehen von rostigen Nägeln können wir so ziemlich alles atmen«, antwortete Louise. »Und vielleicht sogar die, wer weiß.«
    »Das hättest du mir sagen können«, beschwerte sich Lena. »Verdammt, ich hatte Todesangst!«
    »Aber ich war doch die ganze Zeit bei dir, um dich im Notfall rauszuholen«, antwortete Louise. »Und wenn alles schiefgegangen wäre, dann wäre uns immer noch die gute alte Mundzu-Mund-Beatmung geblieben.«
    Ihr Gesicht kam noch näher. Sie legte ihre Lippen auf Lenas und presste ihr einen warmen, nach Leben schmeckenden Atemzug in die Lunge. Dann wurden ihre Lippen weicher und schmeckten plötzlich süß, aber auch fordernd, und ihre Zunge versuchte einen Weg zwischen Lenas überrascht zusammengebissenen Zähne zu finden. Louises Hand lag auf ihrem Bauch und löste ein Gefühl in ihr aus, für das sie sich immer noch ein
wenig schämte, das ihren Widerstand aber auch einfach zerbrechen ließ, denn es war mit rein gar nichts zu vergleichen, was sie jemals erlebt hatte. Statt sich weiter zu wehren, begrüßte sie Louises Zungenspitze nun scheu mit der eigenen. Ihre Hände tasteten nach Louises Gesicht, hielten es einen kurzen Augenblick lang fest und glitten dann an ihrem Hals und ihren Schultern hinab und tiefer, und -
    Rot. Alle ihre Sinne signalisierten ihr mit einem einzigen grellen Blitz Gefahr . Die Luft schmeckte mit einem Mal nach Blut und Beute. Nur einen Sekundenbruchteil nach Louise war auch sie auf den Beinen und stand in einer geduckten, angespannten Haltung da. Etwas flackerte in ihren Augenwinkeln, etwas Graues, Gefährliches, aber als sie hinsah, war es nur Charlotte, die in derselben alarmierten Haltung dastand. Das Buch hielt sie noch immer in der Hand, aber wenigstens hatte sie die Ohrstöpsel ihres iPods herausgenommen.
    Blutgeruch hing in der Luft, und Lena musste nicht fragen, um zu wissen, was geschehen war. Gleichzeitig mit den beiden anderen setzte sie sich in Bewegung, umrundete den künstlichen Felsen und blieb dann überrascht stehen, als ihr Blick auf die kleine Bucht fiel, die sich dahinter verbarg. Sie war eindeutig der blauen Lagune aus dem gleichnamigen Film nachempfunden, auch wenn das Setting vielleicht nicht ganz stimmte. Auf den Wellen tanzte eine umgekippte Luftmatratze, unter der der reglose Körper eines muskulösen Mannes eingeklemmt war, der nur Boxershorts trug. Ein Stück neben ihm trieb Nora mit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht nach unten im Wasser. Sie trug nur noch das Unterteil ihres Bikinis, das Oberteil schwamm ein Stück neben ihr, war in den blutigen Schlieren, die sich im Wasser ausdehnten, aber kaum auszumachen.
    »Ach verdammt!«, stieß Louise hervor. Mit zwei schnellen Schritten war sie neben der reglosen Nora in der Brandung und
zog sie auf den Strand hinauf. Lena schlug erschrocken die Hand vor den Mund, als sie das kreisrunde Einschussloch direkt unter Noras linker Brust sah. Ein dünnes hellrotes Rinnsal sickerte daraus hervor und verteilte sich in rosafarbenen Bahnen auf ihrem nassen Leib.
    Charlotte war plötzlich verschwunden, und auch Lena erwachte endlich aus ihrer Starre, rannte ins Wasser und trat die Luftmatratze mit solcher Gewalt beiseite, dass sie in die Höhe katapultiert wurde und zerplatzte. Blitzschnell bückte sie sich, hob den Körper des Nachtwächters aus dem Wasser (erstaunlich, wie leicht er war!) und trug ihn ans Ufer.
    Marcus war tot. Seine Augen standen weit offen und zeigten blankes Entsetzen und eine unvorstellbare körperliche Qual.

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