Wir sind die Nacht
wie scheinbar Verrücktes: Statt sich so schnell wie möglich nach oben zu bewegen, um wieder Luft zum Atmen zu bekommen, schraubte sie sich mit einer schier unmöglichen Bewegung wieder nach unten, war plötzlich hinter Lena und schlang ihr den Arm um den Hals. Gleichzeitig blockierte sie ihre strampelnden Beine, warf sich herum und presste sie mit solcher Kraft gegen den Boden, dass schon der reine Gedanke an Gegenwehr lächerlich war.
Natürlich versuchte Lena es trotzdem, bäumte sich auf und warf sich verzweifelt hin und her. Sie war zornig auf sich selbst, Louise derart unterschätzt beziehungsweise sich selbst so überschätzt zu haben. Vielleicht lag es einfach an Louises engelsgleichem Gesicht, dass sie sie so falsch eingeschätzt hatte.
Noch weniger schien ihr derber Sinn für Humor zu diesem Engelsgesicht zu passen. Lenas Atemluft war allmählich aufgebraucht, und Louises Griff tat wirklich weh, aber sie schien
wild entschlossen zu sein, ihr grausames Spiel auf die Spitze zu treiben. Was zum Teufel hatte sie vor? Wollte Louise sie umbringen?
Lena kämpfte weiter und verdoppelte ihre Anstrengungen, weil sie es allmählich mit der Angst zu tun bekam. Ihre Lunge schrie nach Luft, und ihr Herz schlug immer heftiger. Ein gallebitterer Geschmack stieg ihr im Rachen empor, und die zunehmende Atemnot löste Panik in ihr aus. Immer verzweifelter schlug und trat sie um sich, um Louises tödlichen Griff zu sprengen, aber es nutzte nichts. Ein eiserner Ring lag um ihre Brust herum und zog sich mit jeder Sekunde weiter zusammen, weißglühend und mit spitzen Dornen, die sich mit jedem Atemzug, den sie nicht bekam, tiefer in ihr Fleisch wühlten. Ihr Körper schrie immer verzweifelter nach Luft, fegte ihren Willen beiseite und zwang sie, den Mund zu öffnen und gierig nach Luft zu schnappen, die es nicht gab.
Salziges Wasser strömte ihre Kehle hinab und dann in die Lungenflügel, und das Gefühl war im allerersten Moment nicht einmal unangenehm, sondern nur seltsam; von einer Fremdartigkeit, die sie nicht beschreiben konnte.
Aber nur im allerersten Moment. Dann folgte ein so reißender, reiner Schmerz, dass sie nahezu das Bewusstsein verlor.
Vielleicht geschah das auch tatsächlich, aber wenn, dann nur für einige wenige Sekunden. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie immer noch unter Wasser. Louises Gesicht schwebte nur eine Handbreit über ihr, von ihrem blonden Haar wie von einem goldenen Heiligenschein umgeben, und das Allerabsurdeste war, dass sie lächelte.
Lena zweifelte an ihrem Verstand, aber dann war die Erklärung umso einfacher: Sie war tot. Die Unsterblichkeit, die Louise ihr versprochen hatte, hatte gerade einmal drei Tage gedauert. Und das war eben das, was einen auf der anderen Seite erwartete.
Aber was tat Louise dann hier?
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, lächelte Louise noch amüsierter und bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Schließlich packte sie Lena und zog sie hinter sich her, der Wasseroberfläche entgegen. Wieso lebte sie noch? Ihre Lunge war mit Wasser gefüllt. Sie sollte tot sein, aber sie atmete ganz normal weiter und fühlte sich wohl dabei!
Wenigstens so lange, bis sie den zitternden Spiegel über sich durchbrach und sich jäh unter dem tosenden Wasserfall wiederfand. Das Gefühl, ersticken zu müssen, kehrte schlagartig zurück. Erneut schlug und trat sie wie von Sinnen um sich und würgte dabei qualvoll bitter schmeckendes Salzwasser hervor. Louise war plötzlich hinter ihr, nahm sie huckepack und schwamm mit kräftigen Zügen los. Schon nach wenigen Augenblicken zog sie Lena auf den warmen Strand hinauf.
Keuchend wälzte Lena sich auf die Seite und würgte noch mehr Wasser und bitteren Schleim hervor. Sie spürte, wie sich Louise über sie beugte und irgendetwas sagte, aber sie verstand die Worte nicht. Alles drehte sich, und sie schlitterte wieder bedenklich nahe am Rande der Bewusstlosigkeit entlang. Statt Wasser füllte nun wieder Luft ihre Lunge, aber es war wie pures Feuer, das jede noch so winzige Verästelung ihrer Bronchien versengte.
Louise drehte sie auf den Rücken und sagte wieder etwas. »… atmen!«, verstand Lena.
Was glaubte sie denn, was sie versuchte?
Nur ganz allmählich wurde das Dröhnen in ihren Ohren leiser, und die Luft versuchte jetzt auch nicht mehr so vehement, sie von innen heraus zu verbrennen.
»Na siehst du, geht doch schon wieder«, sagte Louise fröhlich. »War es jetzt so schlimm?«
»Ja!«, antwortete Lena
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