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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Seine Kehle war so tief aufgerissen, dass an einigen Stellen der weiße Knochen des Rückgrates durchschimmerte. So schrecklich die Wunde war, so wenig blutete sie aber, so als wäre sein Körper nahezu allen Blutes beraubt worden.
    »Großer Gott«, hauchte Lena. »War das … Nora?«
    Louise sah sie einen halben Atemzug lang fast empört an, schüttelte dann knapp den Kopf und beugte sich wieder über Nora. Lena konnte nicht erkennen, was Louise tat, aber plötzlich bäumte sich Nora auf, beide Hände gegen die Schusswunde in ihrem Leib gepresst. Irgendwo auf der anderen Seite der künstlichen Klippe erscholl ein gedämpfter Schrei, dann etwas, was wie ein Schuss geklungen hätte, wäre es nicht viel zu leise gewesen, aber Lena achtete nicht weiter darauf. Fassungslos starrte sie auf Nora hinab.
    Nora schlug nun beide Arme um sich und krümmte sich wie unter Magenkrämpfen. Aber ihr hechelnder Atem beruhigte sich auch zusehends, und nur wenige Augenblicke später richtete sie sich auf und nahm die Arme herunter. Von der tödlichen Schusswunde unter ihrer linken Brust war nur noch ein blasser runder Fleck geblieben, der ebenfalls noch beim Zusehen
verschwand. Dafür schimmerte auf ihrer Handfläche ein winziges zerdrücktes Stückchen Metall.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Louise besorgt.
    Nora nickte. »Ja. Tut mir leid. Das hätte nicht passieren dürfen.«
    »Da kann ich dir nicht widersprechen. Das hätte wirklich nicht passieren dürfen.«
    Nora bemühte sich um ein entsprechend niedergeschlagenes Gesicht. »Tut mir ehrlich leid, aber ich war abgelenkt.« Sie betrachtete stirnrunzelnd die deformierte Kugel auf ihrer Handfläche und warf sie dann mit einer ärgerlichen Bewegung ins Wasser. Erst dann drehte sie den Kopf und sah auf Marcus’ verheertes Gesicht hinab. »Was für eine Verschwendung«, seufzte sie. »Er war so ein süßer Junge.«
    Lena musste sich überwinden, um den toten Wachmann noch einmal anzusehen. Louise hatte sich seiner erbarmt und ihm die Augen geschlossen, aber das nahm dem Anblick nichts von seinem Schrecken. Und da war noch etwas: Auf eine düstere Art … erregte sie das Bild. Hunger erwachte in ihren Eingeweiden, eine nagende Gier, die niemals ganz gestillt werden konnte. »Was … ist passiert?«, fragte sie.
    »Ich glaube, das kann ich beantworten«, antwortete Charlotte hinter ihr. »Zumindest hab ich hier etwas, was uns vielleicht bei der Erklärung hilft.«
    Sie trieb einen breitschultrigen Kerl in Jeans und Lederjacke vor sich her, der sie um einen Kopf überragte und kräftig genug aussah, um sie ohne Mühe in Stücke brechen zu können. Trotzdem stolperte er mit halb erhobenen Armen eingeschüchtert vor ihr her. In seinem Gesicht stand nichts als pures Entsetzen geschrieben.
    Vielleicht lag es ja an der großkalibrigen Pistole mit Schalldämpfer, die Charlotte ihm in den Nacken drückte. Das Buch, in dem sie zuvor gelesen hatte, trug sie jetzt in der linken Hand.
Vorhin hatte sie diese Waffe noch nicht gehabt, und Lena war sich auch ziemlich sicher, dass unter ihrem Badeanzug kein Platz gewesen war, um sie zu verstecken. Vermutlich gehörte sie ihm.
    »Schaut, was ich gefunden habe, Mädels«, sagte Charlotte fröhlich. »Es weiß bestimmt, was hier passiert ist. Bis jetzt spricht es nicht mit mir, aber es wird sicher noch reden.«
    »War er das?«, fragte Louise.
    Nora hob den Kopf und sah in das kantige Gesicht des Burschen hoch. »Ich … weiß nicht. Es ging nämlich alles ziemlich schnell.«
    »Du musst wirklich mächtig abgelenkt gewesen sein, wenn du ein so hübsches Gesicht vergisst«, sagte Louise. Sie stand auf, baute sich vor dem Muskelpaket auf und legte den Kopf in den Nacken, um ihn aus hart glitzernden Augen anzufunkeln. »Hast du auf Nora geschossen?«, fragte sie.
    Der Bursche schien sie nicht gehört zu haben. Er starrte auf Nora hinab, und in den Ausdruck mühsam unterdrückter Furcht mischte sich erst Unglauben und dann noch größeres Entsetzen.
    »Strigoi!«, keuchte er. »Du … du bist … Strigoi . Ihr alle … Strigoi!«
    »Ja«, sagte Nora. »Das ist der Kerl. Ich hab ihn nicht genau gesehen, aber dieses reizende Stimmchen erkenne ich wieder.«
    »Strigoi«, wimmerte der Bursche, schlug das Kreuzzeichen vor Stirn und Brust und versuchte vor Louise zurückzuweichen, aber Charlotte trat ihm so hart in die Kniekehlen, dass er mit einem Stöhnen auf die Knie sank. Sein Blick saugte sich an Noras Brust fest, dort, wo eine halbe Minute zuvor noch

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