Wir sind die Nacht
die tödliche Schusswunde gewesen war.
»Aber das … unmöglich!«, stammelte er mit einem schweren russischen Akzent. »Ich dich getroffen!«
»Ja, allmählich glaube ich auch, dass er es gewesen sein könnte«, sagte Louise in nachdenklichem Tonfall. »Charlotte, warum zeigst du unserem Gast nicht, was wir davon halten, wenn jemand auf eine von uns schießt?«
»Ich darf?«, sagte Charlotte erfreut. »Du bist dir sicher, dass du es nicht mehr brauchst?«
»Mach damit, was du willst«, sagte Louise.
Der Russe erbleichte noch mehr, schlug abermals das Kreuzzeichen und spannte sich, als Charlotte die Waffe direkt auf seine Stirn richtete. Aber sie drückte nicht ab. Stattdessen ließ sie die Waffe sinken und lächelte wieder.
»Weißt du, was der Unterschied zwischen Leuten wie euch und Leuten wie uns ist, mein Freund?«, sagte sie. »Wir geben jedem eine Chance, statt aus dem Hinterhalt auf ihn zu schießen. Und ich halte sowieso nichts von Schusswaffen.«
Damit trat sie zwei Schritte zurück und warf dem völlig überraschten Russen die Pistole vor die Füße. Er rührte keinen Finger, um danach zu greifen.
»Ich war schon immer der Meinung, dass das Wort die mächtigste aller Waffen ist«, fuhr Charlotte im Plauderton fort. »Was hältst du davon, wenn wir es ausprobieren?«
Sie wedelte lächelnd mit ihrem Buch und wiederholte ihre einladende Geste zur Pistole hin.
Der Russe starrte sie noch eine letzte, schier endlose Sekunde an. Dann beugte er sich blitzschnell vor, raffte die Waffe auf und versuchte, gleichzeitig auf Charlotte zu zielen und sich zur Seite fallen zu lassen.
Was dann geschah, war für seine Augen vermutlich unsichtbar, allerhöchstens ein verschwommenes Huschen. Selbst Lena hatte Mühe, der Bewegung zu folgen, und im Grunde begriff sie es erst, als es schon längst vorüber war.
Charlotte trat einen halben Schritt zur Seite in dieselbe Richtung, in die der Russe sich fallen ließ - und das ganz eindeutig
einen Sekundenbruchteil, bevor er es tat -, klappte ihr Buch auf und riss eine Seite heraus. Sie ließ das Buch fallen, faltete das Blatt in der Mitte zusammen und fuhr mit den Fingernägeln der anderen Hand über den Falz, um ihn zur Schärfe eines chirurgischen Instruments zusammenzudrücken. Scharf wie ein Skalpell fuhr die Kante durch die Kehle des Russen und schlitzte seinen Hals so tief auf, dass er nahezu enthauptet wurde. Ein dünner Sprühnebel aus Blut besudelte Charlottes Gesicht, Haar und Schultern. Die Waffe entglitt den plötzlich kraftlosen Fingern des Russen und fiel in den Sand, während er selbst nach hinten kippte. Er starb, noch bevor er den Boden berührte. Das Ganze hatte weniger als eine halbe Sekunde gedauert.
»Aber sie … sie hat ihn … umgebracht«, stammelte Lena entsetzt.
»Du bist eine wirklich scharfsinnige Beobachterin, Lena«, sagte Charlotte. Sie betrachtete einen Moment lang stirnrunzelnd das mit Blut besudelte Buch neben ihr, hob es auf und watete dann bis zu den Hüften ins Wasser, um schließlich unterzutauchen und ihr Gesicht und das Haar von der Schweinerei zu säubern. Ihr Make-up war jetzt wohl endgültig ruiniert. Das Buch trieb auf den Wellen davon.
»Aber sie … hat ihn einfach umgebracht«, murmelte Lena noch einmal. »Sie … sie kann doch nicht …«
»Dieser Kerl hat Marcus auf dem Gewissen«, fiel ihr Louise ins Wort. »Er hat auf Nora geschossen, und glaub mir, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, dann hätte er auch dir und mir eine Kugel in den Kopf gejagt, ohne mit der Wimper zu zucken.« Sie versetzte dem Toten einen Tritt. »Diesen Kerlen ist ein Menschenleben nichts wert.«
So wenig wie euch?, dachte Lena.
Charlotte kam zurück, bückte sich nach der Pistole und warf sie in hohem Bogen ins Wasser.
»Verschwinden wir von hier«, sagte Nora. »Mir ist die Lust am Schwimmen vergangen.«
Charlotte fuhr sich mit der Hand durch ihre zerlaufene Schminke und blickte dann anklagend auf ihre Fingerspitzen hinab. »Frag mich erst mal«, nörgelte sie.
»Also los, weg hier.« Louise packte Lena an der Schulter und zerrte sie einfach hinter sich her. »Wir können unterwegs über alles reden.«
Im Umkleideraum entledigten sie sich rasch ihrer Badesachen und schlüpften in die herumliegenden Kleider, ohne sich großartig abzutrocknen. Die Gefahr, dass sie sich erkälteten, bestand wohl kaum.
Lena kam erst wieder halbwegs zu sich, als sie den langen Korridor hinter sich gebracht hatten und die Aufzugkabine betraten. Sie
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