Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
Vom Netzwerk:
ihm einen ärgerlichen Blick, den der jüngere Vampir aber nicht zur Kenntnis nahm.
    »Halt deinen Köter an der Leine, Stepan«, sagte Nora. »Oder du brauchst einen neuen.«
    Louise brachte sie mit einer ungehaltenen Geste zum Verstummen, bevor sie an Stepan gewandt fortfuhr: »Ich denke, wir sind uns einig, Stepan. Wir haben keinen Streit mit dir. Und ich möchte, dass das so bleibt.«
    »Deine neue Freundin hat gute Beziehungen zur Polizei, wie man hört«, sagte Anton.
    Diesmal machte sich Louise nicht die Mühe zu antworten. Sie sah einfach nur weiter Stepan an, und auch wenn sowohl sie als auch der Russe kein einziges Wort sagten, fand doch irgendeine Art von Kommunikation zwischen ihnen statt, so als verständigten
sie sich auf einer Ebene, die den normalen menschlichen Sinnen nicht zugänglich war.
    »In Ordnung.« Stepan gab seinen Männern einen Wink, woraufhin sie ihre Waffen einsteckten und in die Wagen stiegen. Einzig er selbst und Anton blieben noch einen Moment stehen, und das so gespenstisch lautlose Gespräch schien anzuhalten. Etwas wie eine Drohung lag in der Luft, das Nahen zweier unaufhaltsamer finsterer Gewalten, die irgendwann aufeinanderprallen würden, weil eine Welt allein nicht ausreichte, um ihnen beiden Platz zu bieten.
    Aber nicht jetzt.
    »Dann bis später einmal, meine Liebe«, sagte Stepan schließlich. »Wenn sich alles aufgeklärt hat, komme ich dich vielleicht in deinem Club besuchen, und wir trinken einen Wodka zusammen.«
    »Ihr seid herzlich willkommen«, sagte Louise eisig. »Ich freue mich.«
    Stepan setzte das vorpubertäre Geplänkel zur allgemeinen Erleichterung nicht fort, sondern wandte sich zu seinem Wagen um, einer schweren gepanzerten Limousine mit abgedunkelten Scheiben. Auch Anton drehte sich herum, blieb dann aber noch einmal stehen und sah nachdenklich auf den weißen Ferrari hinab.
    »Schicke Kiste«, sagte er. »Deine?«
    Lena vermutete, dass es in Louises Sinn war, wenn sie nicht antwortete. Anton lachte leise, schüttelte den Kopf und zog dann einen Schlüsselbund aus der Tasche.
    Das Kreischen, mit dem er einen tiefen Kratzer in die linke Seite des Ferraris zog, hörte sich in Lenas Ohren an wie der Schrei eines Tieres auf der Folterbank.

19
    Die Gardinen der großen Hotelsuite waren zurückgezogen, und die Balkontüren standen weit offen. Kühle Luft und die fernen Geräusche der Stadt wehten in das abgedunkelte Zimmer. Die Dämmerung war schon hereingebrochen, und graues Licht kroch wie Nebel durch die Straßen und an den Fassaden der Gebäude hinab. In wenigen Minuten würde das grelle Licht der Sonne folgen, die bereits jetzt als unheildrohende Linie über dem Horizont erschien, und der Balkon würde sich in eine Todeszone verwandeln.
    Charlotte stand trotzdem dort draußen und sah nach Osten. Das tat sie schon eine ganze Weile, und sie hatte sich in all den endlosen Minuten nicht ein einziges Mal bewegt. Der Anblick war faszinierend und beunruhigend zugleich. Lena hatte zweimal versucht, sie anzusprechen, aber weder eine Antwort noch irgendeine andere Reaktion erhalten. Schließlich hatte sie es aufgegeben und sich in den großen Sessel sinken lassen, in dem normalerweise Charlotte saß und ihre uralten Bücher las.
    Lena war müde. Nach der Katastrophe im Tropical Island waren sie in den Club gefahren, aber die Musik und das emsige Treiben und die aufgesetzte Fröhlichkeit und all die bunten Lichter hatten in dieser Nacht ihre Wirkung auf sie verfehlt. Sie hatte fast die gesamte restliche Nacht an der Bar verbracht und ein Whisky-Cola nach dem anderen in sich hineingekippt, ohne dass der Alkohol auch nur die Spur einer Wirkung gezeigt
hätte. So etwas wie einen Kater hatte sie trotzdem, auch wenn er sich auf ihre Seele beschränkte.
    Louise hatte sie belogen. Sie hatte behauptet, alles sei in Ordnung, aber das war es nicht. Sie hatte behauptet, sie habe noch Zeit, aber die hatte sie nicht mehr. Sie hatte gesagt, es gebe keine männlichen Vampire mehr, aber es gab sie.
    Und sie hatte gesagt, dass nur Frauen die Macht besäßen, die geheime Kraft zu wecken, die einen Menschen zu etwas … anderem machte, aber auch das stimmte wohl nicht. Stepans Sohn war der lebende Beweis dafür.
    Lena fragte sich, in welchen anderen Punkten Louise sie noch belogen hatte. Vielleicht stimmte ja rein gar nichts.
    Die Tür fiel ins Schloss, und Nora kam herein. Sie sah genauso müde aus, wie Lena sich fühlte, und wirkte verärgert. Irgendwann im Lauf der Nacht hatte sie

Weitere Kostenlose Bücher