Wir sind die Nacht
eine heftige Auseinandersetzung zwischen Louise und ihr mitbekommen, aber sie war zu erschlagen gewesen, um nach dem Grund zu fragen. Beim Anblick Lenas lächelte Nora - wenn auch matt -, sah dann aber überrascht auf den Balkon hinaus.
»Wie lange steht sie schon da?«
»Charlotte?« Lena hob die Schultern. »Seit ich reingekommen bin. Vielleicht zehn Minuten.«
Nora trat zu Charlotte auf den Balkon hinaus. Lena sah, wie sie etwas zu ihr sagte, aber auch keine Antwort bekam. Sie gesellte sich zu den beiden.
Wenn Nora besorgt war, dann verbarg sie es meisterhaft. Sie sah Charlotte zwar aufmerksam an, doch als Lena eine entsprechende Frage stellen wollte, schnitt sie ihr das Wort ab.
»Sind noch ein paar Minuten«, sagte sie. »Komm, genießen wir den Sonnenaufgang.«
Lena war nicht danach, irgendetwas zu genießen, aber ihr fehlte im Moment auch die Kraft, Nora zu widersprechen. Außerdem hatte sie recht: Es wurde zwar bereits hell, aber bis
die tödlichen Strahlen der Sonne den Balkon erreichten, würden noch Minuten vergehen. Augenblicke wie diese waren kostbar geworden. Dass man Dinge meist erst dann wirklich zu schätzen lernte, wenn man sie verlor, mochte eine Binsenwahrheit sein, aber auch in dem Begriff Binsenwahrheit verbarg sich das Wort Wahrheit .
Sie musste an die vergangene Nacht denken, die Zeit, bevor sie zum Albtraum geworden war. Der nachgeahmte Sonnenaufgang war perfekt gewesen, und dennoch nur ein schwacher Abklatsch, denn ihm hatte genau dieses winzige Etwas gefehlt: Wahrheit.
Eine nie gekannte Melancholie überkam sie, ein Gefühl, über das sie bisher allenfalls gelacht hätte.
Wärme berührte ihr Gesicht, und als sie die Augen öffnete, stellte sie erschrocken fest, dass die lautlos vorrückende Todeslinie des Sonnenlichts die Brüstung schon fast erreicht hatte. Sie glaubte ein Zischen zu hören, wo der Beton unter den sengenden Strahlen verbrannte. Natürlich war es nur ein Streich, zu dem ihre Fantasie ihre überreizten Nerven angestachelt hatte, aber es machte sie trotzdem nervös.
Zeit, hineinzugehen und die Gardinen zuzuziehen.
Weder Nora noch Charlotte rührten jedoch einen Finger. Nora hatte das Gesicht mit geschlossenen Augen dem Sonnenaufgang zugewandt, während Charlotte den größer werdenden Kreisausschnitt aus flüssigem Tod aus weit geöffneten Augen ansah. Ein sonderbarer … entrückter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Was ist das hier?«, fragte Lena. »So eine Art kindische Mutprobe?« Ihr Gesicht war jetzt nicht mehr warm, es war heiß.
»Yep!«, kicherte Nora. »Wer zuerst kneift, ist eine feige Pussy!«
»Und wer bis zum Schluss bleibt, die heißeste Braut des Tages?«
Nora kicherte noch alberner und machte keine Anstalten, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Ihr Gesicht schien zu flimmern, als betrachtete sie es durch einen Vorhang aus glühend heißer Luft.
»Das ist dämlich«, sagte Lena. »Und gefährlich.«
Aber auch sie rührte sich nicht, obwohl das Brennen auf ihrem Gesicht immer unerträglicher wurde. Plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch und schmorendem Haar. Nora presste die Kiefer so fest aufeinander, dass ihre Zähne knirschten. Ihre Lippen trockneten so schnell aus, dass man dabei zusehen konnte, wie sie rissig wurden, aufplatzten und sich zu schälen begannen, und ihr Gesicht und ihre Hände sahen aus wie nach dem schwersten Sonnenbrand, den man sich nur vorstellen konnte. Sie wankte. Aber sie wich nicht, und so dämlich (und selbstmörderisch) es ihr auch selbst vorkam, Lena auch nicht.
Dann schlug eine zischende hellblaue Flamme aus Noras Haar. Sie schrie auf, schlug das Feuer mit beiden Händen aus und fuhr zugleich auf dem Absatz herum, um hinter den Gardinen zu verschwinden. Lena folgte ihr einen Sekundenbruchteil später mit angehaltenem Atem, weil die Luft, die sie umgab, sonst ihre Lunge verbrannt hätte.
So rasch der Schmerz gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. Schon nach zwei, drei Sekunden hörte ihre Gesichtshaut auf zu brennen, und die grellen Blitze vor ihren Augen verblassten.
Nora sah ein bisschen mitgenommener aus. Der Kragen ihres bunten Strickpullovers schwelte noch, aber sie schlug die Funken mit der bloßen Hand aus und lachte schon wieder.
»Scheint so, als wäre heute ich die Pussy«, kicherte sie, »und du …« Sie verstummte mitten im Wort, und ihre Augen wurden groß und rund. »Aber was … Ist die denn wahnsinnig geworden?!«
Charlotte war ihnen nicht ins Zimmer gefolgt,
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