Wir sind die Nacht
erschreckte: das kreisrunde, münzgroße Loch, das in der Windschutzscheibe erschien, oder der Anblick Antons, der in diesem Moment
die Haustür aufriss und herausstolperte. Die Waffe, mit der Nora ihn niedergeschossen hatte, schimmerte nun in seiner Hand. Sein Hemd und sein maßgeschneidertes Jackett hingen in Fetzen, aber dahinter war keine Wunde mehr zu erkennen, sondern etwas Brodelndes, Schwarzes, wie der Krater eines kochenden Schlammgeysirs, und selbst über die Entfernung hinweg konnte sie die absolute Mordlust erkennen, die in seinen Augen loderte.
Nora trat das Gaspedal des Ferraris bis zum Boden durch, und der Wagen schoss los. Etwas krachte. Lena wurde mit solcher Wucht gegen das Armaturenbrett geschleudert, dass die Welt vor ihren Augen für einen Moment schon wieder in blendendem Schmerz versank. Sie hörte das Klirren von zerberstendem Glas und das Krachen von Metall, aber sie spürte auch die enorme Kraft, mit der der Wagen beschleunigte.
Unsicher richtete sie sich auf, tastete mit der linken Hand blind nach dem Anschnallgurt und versuchte das Blut wegzublinzeln, das ihr in die Augen lief.
»Braves Mädchen«, sagte Nora spöttisch. »Immer hübsch anschnallen. Nicht dass wir am Ende noch einen Strafzettel bekommen.«
Lena schenkte ihr einen giftigen Blick, ließ den Verschluss des Sicherheitsgurtes einrasten und drehte sich dann herum, um einen Blick durch die zerbrochene Heckscheibe zu werfen. Einer der beiden Wagen hinter ihnen hatte nur noch einen Scheinwerfer und setzte sich gerade in Bewegung, um die Verfolgung aufzunehmen, und auch der andere stieß hektisch zurück, um zu wenden. Ein, zwei orangefarbene Funken flackerten auf und erloschen wieder, doch wenn es Schüsse waren, dann trafen sie nicht, und das Geräusch ging im Brüllen des Ferrari-Motors unter.
Nora trat auf einmal mit aller Gewalt auf die Bremse und kurbelte wie wild am Lenkrad, um den Wagen im rechten
Winkel um die Kurve zu steuern. Und wäre die Straße nicht auf beiden Seiten hoffnungslos zugeparkt gewesen, hätte sie es vielleicht sogar geschafft. So rutschte der Ferrari auf blockierenden Rädern über das ausgefahrene Kopfsteinpflaster, brach aus und prallte dann mit der kompletten Fahrerseite gegen ein geparktes Fahrzeug auf der anderen Straßenseite. Noch mehr Glas zerbrach, der Spiegel auf der Fahrerseite verabschiedete sich auf Nimmerwiedersehen, und dann ging der Motor aus.
»Mist«, sagte Nora. »Das mit dem Spiegel tut mir leid. Ich kauf dir einen neuen.«
Hastig hielt Lena nach ihren Verfolgern Ausschau. Zumindest im Moment war noch nichts von ihnen zu sehen, aber sie vernahm das Kreischen von Reifen und das zornige Aufbrüllen eines Motors, der sich nicht wesentlich schwächer als der des Ferraris anhörte, und ein einzelner greller Lichtfinger tastete über das Straßenpflaster.
»Nora«, sagte sie nervös.
Nora nickte mit verbissenem Gesicht, griff nach dem Zündschlüssel, und wie durch ein Wunder sprang der Motor sofort an. Lena wurde diesmal fast noch heftiger in den Sitz gepresst.
Der Ferrari schoss wie der sprichwörtliche von der Sehne geschnellte Pfeil los, aber Lena sah auch, dass ihre Verfolger bereits hinter ihnen um die Kurve geschlittert kamen. Die Fahrer schienen dieselben Schwierigkeiten zu haben wie Nora zuvor, schafften die Biegung im Gegensatz zu ihr aber irgendwie, und ihr ohnehin erbärmlicher Vorsprung war zusammengeschmolzen.
Nora gab Gas, und die beiden Wagen fielen sichtbar zurück, wenigstens so lange, bis sie die nächste Kreuzung erreichten und wieder abbiegen mussten.
»Kannst du sie nicht einfach abhängen?«, fragte Lena. »Immerhin ist das hier ein Ferrari, oder?«
»Und zwar einer der schnellsten überhaupt«, sagte Nora.
»Gib mir eine schöne gerade Rennstrecke, und ich lass die Jungs alt aussehen. Aber so …«
»… werden sie uns kriegen.«
»Quatsch!«, fauchte Nora. »Der russische Eseltreiber, der schneller fährt als ich, muss erst noch geboren werden!«
Im Spiegel auf Lenas Seite erschienenen drei grell aufgeblendete Scheinwerfer, und Lena hielt es für klüger, nichts mehr zu sagen; zumal Nora in diesem Moment schon wieder brutal Gas gab und ihr Vorsprung wieder um ein kleines Stück wuchs.
Vor ihnen tauchte eine Ampel auf. Der Ferrari raste über die Kreuzung, ohne dass Lena sehen konnte, welche Farbe die Ampel zeigte, aber hinter ihnen erschollen das Kreischen von Reifen und ein wütendes Hupkonzert. Als Lena in den Spiegel sah, waren ihre Verfolger zwar
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