Wir sind die Nacht
um ein weiteres kleines Stück zurückgefallen, aber immer noch da.
Und als wäre das alles noch nicht genug, mischte sich in das allgemeine Chaos jetzt auch noch das Heulen einer näher kommenden Polizeisirene. Vielleicht das von mehr als einer.
»Nora?«, sagte Lena nervös.
»Keine Sorge«, antwortete Nora. »Die sind unser kleinstes Problem, glaub mir.«
Lena machte sich Sorgen, aber das ihrer Fahrerin in diesem Moment zu sagen wäre wahrscheinlich nicht besonders klug gewesen. Stocksteif und sich möglichst unauffällig irgendwo festklammernd, saß sie neben Nora und sah abwechselnd sie und die beiden ungleichen Scheinwerferpaare im Rückspiegel an, die sich hartnäckig weigerten, kleiner zu werden.
»Gleich kommt der Tunnel«, sagte Nora. »Spätestens da hängen wir sie ab.«
»Oder stehen im Stau.«
»Nicht um diese Uhrzeit.« Nora schaltete in einen niedrigeren Gang und ließ den Ferrari an einem betagten Volvo-Kombi vorbeischießen. Der Fahrer des Fahrzeugs verlor prompt die
Kontrolle und schlingerte wie wild hin und her, konnte seine Familienkutsche dann aber im letzten Moment doch noch abfangen.
»Schade eigentlich«, seufzte Nora. »So ein netter kleiner Unfall hinter uns wäre genau das gewesen, was wir jetzt gebraucht hätten.«
Hinter dem Volvo tauchten die anderthalb Scheinwerferpaare ihrer Verfolger auf und kamen schon wieder näher. Nora stieß einen ganz und gar nicht damenhaften Fluch aus und gab so brutal Gas, dass die Hinterräder des Ferraris erst kurz durchdrehten, bevor der Sportwagen einen gewaltigen Satz nach vorn machte. Diesmal wurden die grellen Scheinwerferkegel ihrer Verfolger im Spiegel spürbar kleiner.
»Na also«, sagte Nora fröhlich. »Freude am Fahren gegen italienische Macho-Power. Was glaubst du, wer gewinnt?«
Der Verkehrsinfarkt, ganz eindeutig. Der Tunnel, von dem Nora gesprochen hatte, lag vor ihnen, aber - drei Uhr nachts hin oder her - der von Lena prophezeite Stau auch; eine Dreierreihe boshaft funkelnder Bremslichter, die so schnell näher zu kommen schienen wie die Sterne in einem Science-Fiction-Film, in dem das Raumschiff gerade die Lichtmauer durchbrach.
»Du … siehst das da vorn schon?«, fragte Lena nervös.
»Was denn?«
»Kann diese Kiste zufällig auch noch fliegen?«, murmelte Lena. Sie schloss die Hände so fest um den Sitz, dass das steinharte Leder ächzte.
»Leider nicht«, sagte Nora leichthin. »Ist aber auch nicht nötig. Keine Angst, ist gleich vorbei.«
Nora gab noch mehr Gas, klammerte beide Hände so fest um das Lenkrad, als hätte sie allen Ernstes vor, den Wagen ins Ende der Schlange vor ihnen zu rammen, und riss den Wagen dann in einer jähen Bewegung nach links. Die Lücke in der kniehohen Leitplanke, die die sechs Fahrspuren voneinander
trennte, bemerkte Lena erst, als sie nahezu ungebremst in den Gegenverkehr rasten.
»Und das ist jetzt eine bessere Idee?«, presste sie irgendwie hervor.
»Nein«, antwortete Nora fröhlich. Sie musste schreien, um das Hupkonzert zu übertönen, das überall rings um sie herum losbrach. »Aber vielleicht diskutieren wir das später. Jetzt würde ich mich gern auf das Fahren konzentrieren.«
Der Ferrari schoss mit weit über hundert Stundenkilometern entgegen der Fahrtrichtung in den Tunnel hinein. Der Verkehr war auf dieser Seite nicht besonders dicht, aber das Allerletzte, womit die Fahrer rechneten, war ein weißer Kamikaze-Ferrari ohne Licht, der ihnen mit hundert Sachen entgegenkam. Grelle Scheinwerferstrahlen stachen ihnen in die Augen und ließen Noras Gesicht neben ihr noch bleicher aufleuchten. Hupen schrillten, und schreckensbleiche Gesichter und panisch aufgerissene Augen huschten an ihnen vorüber. Nora lachte. Es klang ein bisschen irre. Sie gab noch mehr Gas, riss das Lenkrad nach rechts und gleich darauf nach links und wich einem riesigen Truck aus, dessen Lichthupe ein wahres Gewitter entfesselte. Funken sprühten, als das Heck des Ferraris die hintere Stoßstange touchierte. Der Wagen drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, kam wie durch ein Wunder wieder in die Spur und jagte mit aufheulendem Motor weiter. Ein hastiger Blick nach hinten zeigte Lena, dass auch der Lkw ins Schlingern geraten war. Er zeigte ihr aber auch, dass noch ein Geisterfahrer unterwegs war.
Neben dem Lkw erschien ein silberfarbener 7er-BMW, der so schnell aufholte, dass man dabei zusehen konnte.
Nora fluchte, gab weiter Gas und jagte den Ferrari in halsbrecherischen Schlangenlinien zwischen
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