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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Schweigen zwischen ihnen aus, eine Stille, die im gleichen Maße unangenehm wie auf sonderbare Art vertraut war. Sie war de facto verhaftet worden, aber sie fühlte sich nicht so. Ganz und gar nicht.
    »Du bist ein echt sonderbarer Bulle«, sagte Lena schließlich.
    »Deswegen bin ich ja bei der Soko«, antwortete Tom mit todernster Miene. »Weil es dort so viele sonderbare Kollegen gibt.«
    Lena lachte, aber es klang so wenig echt, dass ihr der Laut sofort im Hals stecken blieb. Ein seltsames Gefühl begann sich in ihr breitzumachen. An diesem Jungen war etwas, was sie umso weniger begriff, je intensiver sie es zu ergründen versuchte.
    »Sieht so aus, als hättest du mich erwischt«, sagte sie schließlich. »Keine Chance auf eine zweite Chance?«
    »Vierte«, verbesserte sie Tom und schüttelte bedauernd den Kopf.

    »Und wenn wir …«, begann Lena, aber Tom unterbrach sie mitten im Satz:
    »Stopp! Sag jetzt bitte nicht das, wovon ich glaube, dass du es sagen willst!«
    Lena spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht schoss. »Keine Angst!«, sagte sie scharf. »Das hatte ich nicht vor! Aber es macht es leichter, weißt du?«
    »Was?«, fragte Tom.
    Lena sparte es sich, das das auszusprechen. Mit einem einzigen federnden Satz war sie auf den Beinen und jagte mit weit ausgreifenden Schritten davon.
    Mit einem einzigen weit ausgreifenden Schritt, um genau zu sein.
    Lena konnte im ersten Moment nicht sagen, was schlimmer war: die vollkommene Überraschung, sich mit einem Mal bäuchlings auf dem Boden liegend wiederzufinden, oder die Wucht, mit der Tom auf ihr landete und sie gegen den Boden presste. Zugleich griff er nach ihrem Handgelenk und drehte ihr den Arm auf den Rücken.
    »Verdammt, geh … runter von … mir!«, keuchte sie, während sie Dreck und ekelhaftes Gras ausspuckte.
    Tom ging nicht runter von ihr, aber immerhin lockerte er den Polizeigriff etwas. Sie konnte seinen Atem im Nacken und auf der Wange spüren. Er roch gut.
    »Hör auf, verdammt noch mal!«, sagte er schwer atmend. »Ich will dir nicht wehtun!«
    »Ich dir schon!«, antwortete Lena, zog die Knie an und riss dann mit aller Gewalt den Kopf in den Nacken.
    Es tat sehr viel mehr weh, als sie erwartet hatte, aber sie wurde auch mit dem zufriedenstellenden Knacken von Knorpel belohnt und gleich darauf mit einem Laut, der irgendwo zwischen einem überraschten Grunzen und einem schmerzerfüllten Heulen lag. Toms Griff um ihr Handgelenk lockerte sich
noch mehr, und Lena riss sich los, rollte sich auf den Rücken und stieß ihm die nackten Füße mit solcher Wucht vor die Brust, dass er in einer grotesk armwedelnden Pantomime rückwärts auf die Beine katapultiert wurde. Irgendwie brachte er das Kunststück fertig, das Gleichgewicht zu halten.
    Lena nutzte den restlichen Schwung ihres Tritts, um sich ebenfalls aufzurichten, machte einen hastigen halben Schritt zurück und bückte sich dann blitzschnell, um das Smartphone und die Brieftasche des Russen aufzuheben. Was für sie galt, das galt schließlich auch für ihn: Er hatte seine Chance. Auch die vierte, um genau zu sein.
    »Mach keinen … Unsinn, Mädchen«, brachte er benommen hervor. Das Blut lief ihm aus der Nase, und er schwankte leicht. »Du weißt ja nicht, was du da …«
    »Sorry, Tom«, sagte Lena, und das war nicht einmal gelogen. Es tat ihr wirklich leid. Und sogar ein bisschen weh.
    Wenn auch wahrscheinlich nicht annähernd so sehr wie ihm, als sie das Knie hochriss und ihm zwischen die Beine rammte.

3
    Flüchten wäre irgendwie unsinnig gewesen, denn Toms Kollegen hatten tatsächlich das gesamte Viertel so hermetisch abgeriegelt, dass nicht einmal die sprichwörtliche Maus durch das engmaschige Netz schlüpfen konnte. Der Umstand, sich nicht in einer der wirklich besseren Gegenden der Stadt aufzuhalten, erwies sich im Nachhinein jedoch als Segen. Nicht wenige der Häuser hier am Kanal standen teilweise oder auch ganz leer, so dass es ihr nicht schwergefallen war, ein Versteck zu finden, in dem sie abwarten konnte, bis das Schlimmste vorüber war; eine Stunde, bis sich der Polizeikordon auflöste, und noch eine geschlagene zweite, nur um auf Nummer sicher zu gehen und nicht etwa einer Zivilstreife in die Arme zu laufen, die in irgendeiner Ecke darauf wartete, dass sie dumm genug war, sich zu zeigen.
    Es begann zu dämmern, als sie es endlich wagte, ihr Versteck in dem von Ratten und Spinnen verseuchten Abbruchhaus zu verlassen, um sich auf den Heimweg zu machen. Nur gut, dass

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