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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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sie mit dem Roller jetzt motorisiert war. Allerdings war es ohne Jacke schon recht kühl. Das Sommerkleid passte nicht zur Jahreszeit und war wohl nicht zufällig auf dem Wühltisch von Aldi gelandet. Prompt folgte ihr auch der eine oder andere verwunderte Blick, aber darüber machte sie sich keine allzu großen Sorgen. Die Menschen in dieser Stadt waren den Anblick sonderbarer Gestalten gewohnt.

    Einen Straßenzug von dem heruntergekommenen Mietshaus entfernt, in dem ihre Mutter und sie wohnten, gab es eine Bankfiliale mit einem Geldautomaten, den sie nun ansteuerte.
    Lena überzeugte sich mit einem unauffälligen Blick in die Runde davon, dass niemand sie beobachtete, und stellte den Roller fluchtbereit ab, um die letzten Meter zu Fuß zurückzulegen. Erst dann schaltete sie das Handy ein und spulte ungeduldig vor, bis sie Igors goldbehängte Wurstfinger sah, mit denen er die vierstellige Geheimnummer eintippte, kristallklar und in brillanten Farben so deutlich zu erkennen, dass er sie ebenso gut in Leuchtschrift auf der Stirn hätte tragen können. Sie schob die EC-Karte des Russen in den Schlitz, tippte die PIN ein und drehte sich wie zufällig so, dass nicht ihr Gesicht in den Aufnahmebereich der Kamera geriet, sondern nur ein Stück des roten Kleides und ihre leicht mitgenommenen Fingernägel. Viel Spaß beim Suchen.
    Der Automat zitterte, klickte, ratterte noch einmal, dann erschienen in dezenten kleinen Buchstaben die Zeilen:
    KARTE ZUR AUSZAHLUNG NICHT GEEIGNET.
    BITTE WENDEN SIE SICH AN IHREN SACHBEARBEITER.
    Sie wusste zwar, dass es unmöglich war, bildete sich aber ein, ein gehässiges Schlürfen zu hören, mit dem der Automat die Karte endgültig verschluckte.
    Lena blinzelte. Russenmafia? Und das Konto war so hoffnungslos überzogen, dass der Automat die Karte fraß?
    Es fiel ihr schwer, das zu glauben. Aber vielleicht hatte dieser Tom ja auch einfach nur Unsinn erzählt, um sich wichtig zu machen oder sie einzuschüchtern, damit sie ihre Beute rausrückte.
    Lena wartete, bis sie sicher sein konnte, dass die Kamera nicht mehr lief. Nachdem sie dem hinterlistigen Automaten noch einen kräftigen Tritt versetzt hatte (was sich mit nackten Füßen als keine besonders gute Idee erwies), untersuchte sie die Brieftasche des Russen genauer. Sie war so gut wie leer. Die vier
Fünfziger, die Iwan abgehoben hatte (jetzt wusste sie auch, warum er so wenig gezogen hatte: Sein Dispo musste bis zum Anschlag ausgeschöpft sein), ein kyrillisch beschriftetes Dokument, von dem sie annahm, dass es ein Führerschein war, und das winzigste Notizbuch, das sie je gesehen hatte. Keine Platinkarte, kein Mitgliedsausweis für irgendeinen Edelpuff, kein Schlüssel für einen geheimen Tresor … Wenn Tom tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, dann musste sie wohl an den einzigen puritanischen Mafiaboss der ganzen Welt geraten sein. Nein, heute war ganz eindeutig nicht ihr Tag.
    Lena nahm die vier druckfrischen Fünfziger an sich, blätterte das winzige Notizbuch durch und stellte fest, dass sie es nicht lesen konnte. Die winzige Schrift sah wie irgendein abstruser Geheimcode aus (was hatte sie denn erwartet - die Bankverbindungen der Moskauer Mafiazentrale samt den dazugehörigen Passwörtern?). Sie überlegte einen Moment, ob sie zur Abwechslung einmal auf ihre Vernunft hören und das Ding samt Brieftasche in den nächsten Gully schmeißen sollte. Wenn sie wirklich so wichtig war, wie Tom behauptet hatte, dann war möglicherweise nicht nur die Polizei hinter dem Ding her, und sie konnte sich wirklich etwas Erbaulicheres vorstellen, als auch noch zwei Dutzend blutrünstiger Kosaken auf den Fersen zu haben.
    Aber sie wäre schließlich nicht sie gewesen, hätte sie einfach so auf die Stimme ihrer Vernunft gehört. Nachdem sie das Bargeld entnommen hatte, stopfte sie die Brieftasche und das Smartphone, statt die Beute in der Kanalisation zu versenken, in Ermangelung einer anderen Möglichkeit einfach unter den Gummi ihres Slips. Dann fuhr sie das restliche Stück nach Hause so schnell, dass ihr der Wind das Haar zerzauste. Fast zögerlich stellte sie dort die lieb gewonnene Maschine unter der Straßenlaterne ab. Und erst recht musste sie sich überwinden, um das Haus zu betreten. Wie jedes Mal.

    Es war nicht allein die Lage und das heruntergekommene Äußere der hundert Jahre alten Bruchbude, in der ihre Mutter und sie seit einem Jahr hausten. Lena hatte nie Wert auf Luxus gelegt - vielleicht, weil sie ihn niemals kennengelernt

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