Wir sind die Nacht
mit schuppiger grauer Haut bedeckt und mit fürchterlichen Krallen, gebogen wie Messer und härter als Stahl, und irgendetwas geschah mit seinem Gesicht, als hätte der rasende Zorn die Maske vermeintlicher Menschlichkeit davor aufgeweicht.
Nora warf sich gegen seine Beine und brachte ihn ins Stolpern. Mehr brauchte Lena nicht. Sie musste über das, was sie tat, nicht groß nachdenken. Es war das Raubtier in ihr, das die Kontrolle übernahm. Anton stemmte sich bereits wieder hoch,
knurrend wie ein gereizter Bluthund und die Zähne fletschend, und Lena war mit einem einzigen Schritt hinter ihm, schlang ihm die Arme um den Hals und versuchte, seinen Kopf in den Nacken zu reißen und ihm gleichzeitig mit den Fingernägeln die Augen auszukratzen. Ihr Verstand versuchte ihr klarzumachen, dass ihn das nicht aufhalten würde, sondern nur noch wütender werden ließe, aber ihr Verstand hatte nichts mehr zu melden. Haut und viel weicheres Gewebe zerriss unter ihren Nägeln, und warmes Blut lief über ihre Finger, dessen bloßer Geruch sie fast in den Wahnsinn trieb.
Anton fauchte vor Schmerz und Wut und stand mit einem Ruck vollends aufs. Zugleich griff er mit beiden Händen hinter sich und grapschte ungeschickt nach dem zappelnden Anhängsel auf seinem Rücken, bekam aber nur eine Haarsträhne zu fassen, die er ihr prompt ausriss. Lena schrie vor Schmerz auf - und grub ihre Zähne tief in seinen Hals. Anton brüllte, und die faulig schmeckende Wärme, die in Lenas Mund floss, war wie ein elektrischer Schock, der jede einzelne Zelle ihres Körpers in Brand setzte.
Es war unbeschreiblich widerwärtig; so als hätte sie in etwas Totes gebissen, das schon vor tausend Jahren zu verwesen begonnen hatte. Alles in ihr schrie danach, sein Blut hinunterzuschlucken, das Leben in sich aufzusaugen, das sie trotz allem tief unter dieser brodelnden Masse aus Hass und sämiger Bosheit spürte, und zugleich schrie das, was von ihrer Menschlichkeit noch geblieben war, in schierem Entsetzen auf.
Aber sie brauchte dieses Blut, die Kraft, die es ihr geben würde und die alles war, was noch zwischen ihr und dem sicheren Tod stand.
Eine unvorstellbar starke Hand krallte sich in ihre Schulter, riss sie von ihrem Opfer weg und schmetterte sie gegen die Wand. Eisenharte Finger schlossen sich um ihre Kehle und schnürten ihr den Atem ab, dann traf sie ein Fausthieb mit solcher
Gewalt in den Leib, dass sie sich mit einem gequälten Wimmern übergab. Erbrochenes, Schleim und Blut, so schwarz und zähflüssig wie Teer, spritzte auf den Boden, und plötzlich konnte sie wieder atmen. Erst jetzt erkannte sie, dass nicht Anton oder einer seiner Männer sie niedergeschlagen hatten, sondern Charlotte.
»Nein!«, sagte sie. »Tu das nicht! Nie, unter keinen Umständen! Hast du verstanden?«
Lena antwortete nicht, nicht einmal mit einem Nicken. Sie starrte Charlotte nur an und versuchte zu begreifen, was sie getan hatte. Wo gerade noch mörderische Wut und verzehrender Zorn gewesen waren, da gähnte plötzlich ein rasender Strudel aus Schwärze, der sich immer schneller drehte und sie in eine Tiefe hinabzuzerren versuchte, aus der sie nie wieder entkommen würde. Wieder war es Charlotte, die sie rettete, indem sie sie hochriss und so derb schüttelte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen, und als das nichts zu nutzen schien, ohrfeigte sie sie.
Der Schmerz war lächerlich gegen das, was sie gerade erlebt hatte, und doch riss er sie in die Wirklichkeit zurück. Der schwarze Strudel erlosch, und an seiner Stelle war plötzlich nichts mehr als eine wohltuende Müdigkeit. Charlotte sah sie noch einmal sehr aufmerksam an, dann wandte sie sich mit einem Ruck wieder zu Anton um.
Der Russe hatte sich hochgestemmt und stand leicht schwankend da. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, aber er wirkte zugleich auch benommen. Er hatte die linke Hand gegen den Hals gepresst, und zwischen seinen Fingern quoll noch immer zähflüssiges schwarzes Blut hervor. Die Wunde hätte sich längst schließen müssen, dachte Lena verwirrt.
»Miststück«, murmelte er. »Verdammtes … Dreckstück.«
Sein Blick flackerte. Der Blutstrom, der zwischen seinen Fingern hervorquoll, schien noch intensiver zu werden.
Aber vielleicht sah Lena auch nur das, was sie sehen wollte.
»Verschwinde, Anton«, sagte Charlotte kalt. »Verschwinde einfach, und niemand muss etwas von dem hier erfahren.«
Anton starrte sie hasserfüllt an. Er antwortete irgendetwas auf Russisch, und ein einzelner
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