Wir sind die Nacht
bestehen schienen, die im Moment allerdings nicht brannten.
»Nora, nicht!«, schrie Charlotte.
Aber es war zu spät. Charlotte versuchte noch, sie zurückzuhalten, aber Nora fegte sie einfach aus dem Weg, warf sich auf den Russen und krallte die Hände in sein Hemd. Anton empfing sie mit einem wuchtigen Faustschlag in den Leib, der ihr die Luft aus der Lunge trieb und ihre Rippen nun tatsächlich knacken ließ, aber sie krallte sich mit nur noch größerer Wut in seine Jacke und riss ihn herum. Anton versuchte nach ihr zu schlagen, verfehlte sie aber, worauf Nora sein Handgelenk packte und eine groteske Pirouette vollführte, um seine eigene Kraft gegen ihn zu verwenden, so dass Anton plötzlich ins Stolpern geriet und an ihr vorbeitorkelte. Nora half nach, indem sie sich noch einmal um ihre Achse drehte, den Russen am ausgestreckten
Arm wie einen lebenden Kreisel herumwirbelte und genau im richtigen Moment losließ, um ihn durch die Tür in das Solarium zu schleudern, wo er an der Wand in einem Hagel aus zersplitterndem Holz und schierer Wut zusammenbrach. Nora stürmte hinter ihm her und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Charlotte war nur einen Sekundenbruchteil hinter ihr und drückte die Klinke mit beiden Händen und solcher Gewalt nach unten, dass das Metall bedrohlich knirschte. Die Tür rührte sich nicht. Nora musste sie von innen verriegelt haben.
»Verdammt noch mal, hilf mir!«, schrie Charlotte. »Schnell!«
Lena überwand endlich ihre Überraschung und war mit einem Satz neben ihr. Zu zweit zerrten sie mit all ihren übermenschlichen Kräften an der Türklinke, und das war selbst für die massive Metallkonstruktion zu viel. Die Klinke brach ab, und Charlotte und sie stolperten rückwärts.
»Aber was … was tut sie denn?«, stammelte Lena. »Er … er wird sie umbringen!«
»Kaum«, antwortete Charlotte. Aber sie sagte es in einem Ton, der Lenas Angst nur steigerte. Charlotte starrte die geschlossene Tür mit versteinerter Miene an, und schließlich wurde es Lena zu viel. Sie stürmte an ihr vorbei und versuchte die Tür aufzureißen. Aber sie bestand aus Metall, eine massive Feuerschutztür, die selbst ihren Kräften mühelos standhielt, und da sie nach außen aufging, war es auch unmöglich, sie einzutreten; zumindest in den wenigen Augenblicken, die ihnen noch blieben, bis Anton Nora umbringen würde. Ebenso verzweifelt wie sinnlos hämmerte Lena mit beiden Fäusten gegen die Tür. Schreie drangen aus dem Solarium, ein dumpfes Poltern und Krachen - die Geräusche eines Kampfes. Anton würde sie umbringen, dachte Lena verzweifelt, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte!
»O nein«, flüsterte Charlotte. »Tu das nicht. Nora, tu es nicht!«
Die letzten Worte hatte sie geschrien. Und - ob es nun Zufall war oder nicht - der Lärm auf der anderen Seite schien tatsächlich für einen Moment innezuhalten. Dann erscholl ein gellender Schrei, so unglaublich schrill und laut, dass er unmöglich aus einer menschlichen Kehle stammen konnte.
»Nein!«, keuchte Charlotte. Dann schrie sie wieder: »Nora! Nein!«
Erneut drang jener durch und durch unmenschliche Schrei durch das dicke Metall der Tür, ein Laut voller unvorstellbarem Zorn, aber auch genauso gewaltiger Angst. Ein Zischen erklang, und etwas wie ein eisiger Hauch streifte Lenas Seele; Furcht und Leid in ihrer reinsten Form, wie die Essenz von etwas, was das aktive Gegenteil von Leben war.
Charlotte riss sie von der Tür weg, unter der plötzlich ein bösartiges gelbes Licht hervordrang. Wieder gellten Schreie, aber jetzt hörte Lena nur noch Schmerz und maßloses Entsetzen darin. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, aber Charlotte hielt sie nicht nur mit unerbittlicher Kraft fest, sondern zerrte sie auch immer weiter von der Tür weg. Das Licht wurde heller, schneidender, und drang jetzt nicht nur unter der Tür hervor, sondern sickerte auch durch den Rahmen, und Lena konnte seine zerstörerische Gewalt beinahe schmecken. Hitze streifte ihr Gesicht, und da war plötzlich ein schrilles Klingeln, das aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien. Das Zischen wurde lauter, und plötzlich begann der Lack auf der Tür Blasen zu schlagen und sich schwarz zu färben. Irgendwo hinter ihr wurde das Schrillen und Klingeln noch lauter. Die Luft schmeckte wie nach etwas Lebendigem, das sich wand und starb. Lena riss sich los, war mit einem Satz wieder bei der Tür. Charlotte wollte sie zurückhalten, aber Lena stieß sie mit dem
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