Wir sind die Nacht
Blutstropfen erschien in seinem Mundwinkel und lief wie eine schwarze Träne an seinem Kinn hinab.
»Verschwinde einfach«, sagte Charlotte noch einmal.
Anton brabbelte erneut irgendetwas in seiner Muttersprache, machte einen taumelnden Schritt und nahm für einen Moment die Hand herunter. Sein Blick wurde glasig, während er das eigene Blut anstarrte, das seine Finger wie ein ölig glänzender schwarzer Handschuh bedeckte. Erst in diesem Augenblick sah Lena die zweite, sehr viel tiefere Wunde dicht unterhalb des Adamsapfels und das schwarze Blut, das Noras Lippen und Kinn besudelte. Lena hatte es nicht mitbekommen, doch während Charlotte sich um sie gekümmert hatte, musste Nora ihn auf genau dieselbe Art wie sie attackiert haben, nur sehr viel effektiver.
Charlotte ging zu ihr und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Nora wirkte mindestens so mitgenommen wie der Russe, wenn auch vermutlich aus ganz anderen Gründen. Schon bei der Erinnerung an den grauenhaften Geschmack auf ihren Lippen wurde Lena wieder übel.
Anton stand wankend da und starrte auf die beiden reglos daliegenden Schläger hinunter, die er mitgebracht hatte. Auch der zweite Mann gab keinen Laut mehr von sich. Seine Kehle war wie von den Klauen eines riesigen Raubvogels zerfetzt worden. Lena versuchte sich vergeblich zu erinnern, wer ihn getötet hatte und wann. Alles erschien ihr mit jeder Sekunde unwirklicher. Sie war so müde. Und so hungrig.
»Dafür bezahlt ihr«, murmelte Anton. Seine Worte wurden von einem schrecklichen nassen Röcheln begleitet. »Das ist … noch nicht vorbei.«
»Für dich schon, wenn du nicht gehst«, sagte Charlotte.
Anton presste die Hand gegen den Hals. Der Blutstrom versiegte allmählich, und die Ränder der schrecklichen Wunde schienen zu brodeln. Was immer Nora ihm angetan hatte, würde ihn nicht umbringen, aber es machte ihm zu schaffen. Vermutlich aus der Überzeugung heraus, dass es in einem Moment wie diesem angemessen war, versetzte er dem Toten noch einen wütenden Tritt, stützte sich kurz am Türrahmen und torkelte dann los.
»Du lässt ihn gehen?«, fragte Lena verwundert.
Charlotte zuckte nur mit den Achseln. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, sagte sie. »Einen Krieg mit Stepan anfangen?«
»Hat sein Vater das nicht schon getan?«
»Wir töten einander nicht«, erwiderte Charlotte unwillig.
»Weiß Anton das auch?«, sagte Lena.
Charlotte würdigte sie keiner Antwort und wandte sich zu Nora um. Ein unerwartet weicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, fand ganz offensichtlich nicht die richtigen Worte und streckte schließlich in einer tröstenden Geste die Hand aus.
Nora ignorierte sie, bückte sich nach einem Handtuch und begann es sich mit sonderbar roboterhaft wirkenden Bewegungen um die Hüften zu wickeln. Aber sie führte das Ganze nicht zu Ende, sondern ließ das Handtuch plötzlich wieder fallen, um sich nach dem toten Pagen zu bücken.
»Es … tut mir so leid, Liebes«, flüsterte Charlotte.
Noras Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wollte das nicht«, flüsterte sie. »Ich … Ich habe ihn doch … geliebt.«
»Ich weiß, Kleines«, flüsterte Charlotte. »Aber du kannst nichts dafür. Es ist nun einmal unsere Art.«
»Unsere Art«, wiederholte Nora. Es klang bitter, mehr wie ein Schrei als etwas Gesagtes. Und schließlich flossen ihr
stumm die Tränen herab. Zitternd kniete sie neben dem toten Jungen nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Unsere Art«, sagte sie noch einmal. »Ja.«
Und damit fuhr sie in die Höhe und stürzte mit einem gellenden Schrei hinter dem Russen her. Charlotte versuchte ihr den Weg zu vertreten, aber Nora stieß sie einfach zur Seite, war mit einem Satz auf dem Korridor und warf sich auf Anton.
Anton stolperte, prallte gegen die Wand und drehte sich tollpatschig herum, um ungeschickt nach ihr zu schlagen. Nora rammte ihm das Knie zwischen die Beine, und ihre Fingernägel fuhren wie Messer durch sein Gesicht und fügten ihm neue heftig blutende Schnittwunden zu, die sich allerdings beinahe ebenso schnell wieder schlossen, wie sie entstanden.
Anton knurrte wie ein gereiztes Tier, bekam sie zu fassen und schleuderte sie mit solcher Gewalt gegen die Tür auf der anderen Seite, dass Lena glaubte, Noras Knochen knacken zu hören. Die Tür in Noras Rücken sprang auf und gab den Blick auf einen kleinen Raum frei, dessen Decke und Wände fast zur Gänze aus blauen Leuchtstoffröhren zu
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