Wir sind die Nacht
gegen sie geprallt wäre. Sie musste sich anstrengen, um sich an Charlotte vorbeizuquetschen, und bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor.
Alles, was sie sah, war jedoch Nora, die mit angezogenen Knien auf einer der Bänke saß und ins Leere starrte. Dampf erfüllte die Luft in dichten, feuchten Schwaden, die sofort ihre Kleider aufzuweichten und alle Oberflächen schlüpfrig machten. Lena konnte nicht sagen, ob die Nässe auf Noras Gesicht aus Tränen oder Wasserdampf bestand.
Im ersten Moment sah es so aus, als wäre sie allein. Der Raum war leer bis auf zwei einfache hölzerne Bänke und eine verchromte Blüte aus kleinfingerdicken Metallstäben, in denen glühende Kieselsteine automatisch mit Wasser besprüht wurden, um einen beständigen Nachschub an brühheißem Dampf zu liefern. Charlotte machte einen halben Schritt zur Seite, und da sah sie die zweite schmale Gestalt, die reglos neben Nora auf der Bank lag, Arme und Beine wie ein Fötus angezogen. Er war ebenso nackt wie Nora, und seine Haut war genauso bleich wie ihre. Die leeren Augen waren weit geöffnet, und in seiner Halsschlagader waren zwei kreisrunde kleine Löcher zu sehen. Die Wundränder waren weiß, und Lena hatte das Gefühl, durch sie hindurch bis auf den Grund seiner Seele zu blicken.
»O mein Gott, Nora«, murmelte Charlotte. »Was hast du bloß getan?« Sie streckte die Hand nach ihr aus, aber Nora zuckte mit einem erschrockenen Laut zurück und begann am ganzen Leib zu zittern.
Charlotte setzte sich neben sie und zog sie an sich heran. Nora leistete kurz Widerstand, warf sich dann aber gegen Charlottes Brust und schluchzte hemmungslos.
»Ich … ich wollte das … nicht«, wimmerte sie. »Bitte, glaub mir, ich … hab das nicht … gewollt.«
»Ich weiß, Liebes«, sagte Charlotte sanft. »Ist schon gut.«
»Aber ich … ich hab das nicht … nicht gewollt«, stammelte Nora. »Es ist einfach passiert.«
»Ich weiß, Liebes«, flüsterte Charlotte. Sie zitterte ganz leicht, als teilte sie Noras Schmerz auch körperlich. Zugleich warf sie
Lena einen beschwörenden Blick zu. Lena bückte sich rasch nach den Einzelteilen der Pagenuniform, die auf dem Boden der Sauna verteilt waren, um den toten Jungen notdürftig damit zu bedecken. Fast angstvoll suchte sie nach Spuren des Schmerzes in seinen erstarrten Zügen, aber da war nichts. Anscheinend war es schnell gegangen. Vielleicht hatte er nicht einmal richtig mitbekommen, was mit ihm geschah.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie.
Charlotte funkelte sie wütend an, aber Nora reagierte völlig anders, als erwartet. Sie hörte zu schluchzen auf und sah sie aus tränenverschleierten Augen an, sagte aber kein Wort.
»Weil das nun einmal unsere Art ist«, antwortete Charlotte an Noras Stelle.
»Aber du hast gesagt …«
Charlotte wandte sich so demonstrativ wieder an Nora, dass Lena nicht weitersprach. »Es tut mir leid, Liebes, aber wir müssen weg«, sagte sie. »Wir sind hier leider nicht mehr sicher.«
»Wie wahr, meine Liebe«, sagte eine Stimme hinter Lena.
Lena bewegte sich so schnell wie nie zuvor, aber das unsichtbare Messer schnitt trotzdem wie eine glühende Lohe in ihre Brust. Etwas zischte. Eine Stichflamme schlug aus ihrer Brust und schleuderte sie mit solcher Gewalt durch den Raum, dass sie gegen die Wand auf der anderen Seite prallte. Charlotte schrie, und das Zischen wiederholte sich, gefolgt von einem dumpfen Poltern.
Es war wohl etwas zu optimistisch gewesen zu geglauben, Stepans gesamte Armee ausgeschaltet zu haben. Mindestens zwei seiner Schläger lebten noch. Sie hatten zu beiden Seiten der Tür Aufstellung genommen und zielten mit zwei doppelläufigen Schrotflinten auf Charlotte, Nora und sie. Jedenfalls sah es auf den ersten Blick so aus. Wenn man genauer hinsah, dann entpuppte sich der zweite Lauf als Stablampe, die an der Waffe befestigt war.
Eine dritte, etwas kleinere Gestalt tauchte zwischen den beiden auf. Anders als sie war er nicht bewaffnet, aber das hatte Anton auch gar nicht nötig.
»Hallo, Mädels«, feixte er. »Überrascht, mich zu sehen?«
Nora starrte ihn bloß an, aber Charlotte brauchte keine halbe Sekunde, um ihren Schrecken zu überwinden. Mit einem wütenden Fauchen sprang sie auf und warf sich auf einen der beiden Schläger. In dem hell erleuchteten Raum war der blaue Lichtstrahl kaum sichtbar, was seine verheerende Wirkung aber nicht beeinträchtigte. Als eine zischende Stichflamme über ihre Oberschenkel raste, geriet
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