Wir sind die Nacht
Wortspiel erst in dem Moment bewusst geworden, in dem sie es aussprach. »Das ist eben ihre Art, damit klarzukommen.«
»Andere zu verletzen?«
»Niemand ist perfekt«, sagte Charlotte leichthin.
Zwei andere Hotelgäste kamen ihnen entgegen. Lena verstummte augenblicklich. Ihr entgingen keineswegs die irritierten Blicke, mit denen die beiden Charlotte und sie musterten. Lena tröstete sich damit, dass es vermutlich nur ihre unpassende Kleidung war, die sie in dieser Umgebung tatsächlich zu dem Straßenköter machte, als den sie sich gerade selbst bezeichnet hatte.
Etwas Sonderbares geschah: Als wäre sie mit ihrer alten Kleidung auch wieder in ihr altes Leben geschlüpft, ertappte sie sich bei der Frage, wie sie an das Armband kommen konnte, das am Handgelenk der Frau glitzerte. Und an die Brieftasche ihres Begleiters. Der Gedanke brachte ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen, und Charlotte blickte sie fragend an, aber Lena reagierte nicht darauf. Was Charlotte wohl sagen würde, wenn sie wüsste, was Louise ihr vorhin vorgeschlagen hatte? Vielleicht würde sie es ihr verraten. Später, wenn dieser ganze Wahnsinn hier vorbei war.
Schweigend gingen sie ins Erdgeschoss hinab, durchquerten die Lobby und nahmen auch diesmal den Umweg durch die Tiefgarage in Kauf, statt den Lift zu benutzen. Als sie dann am Rand des großen Schwimmbeckens entlanggingen (zu ihrer Erleichterung war niemand da), fragte Charlotte: »Wen hast du vorhin angerufen? Deinen kleinen Polizistenfreund?«
Lena erschrak. »Woher …?«
»Ich nehme doch nicht an, dass du dich plötzlich zu einer Technikhasserin entwickelt hast, die zum Spaß Telefone zertrampelt?« Charlotte machte eine beruhigende Geste. »Keine Angst. Ich habe Louise nichts gesagt. Geht es ihm gut?«
»Ich …weiß nicht genau.« Lena konnte spüren, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
»Du hast nicht mit ihm gesprochen?«
»Nicht direkt«, gestand Lena. »Nur mit seinem Kollegen. Er sagt, es wäre nur ein Streifschuss gewesen.«
Charlotte blieb stehen. Jetzt wirkte sie plötzlich beunruhigt. »Du hast seine Dienstnummer angerufen? Beim LKA?«
»Warum nicht? Ich wollte doch nur …« Dann begriff sie, was Charlotte meinte. »Oh.«
»Ja, oh«, sagte Charlotte. »Die wissen jetzt, wo wir sind.«
»Aber die Telefonzentrale hier unterdrückt doch die Nummern, oder?« Lena kam sich selbst albern dabei vor.
»Sicher. Aber was glaubst du, wie lange das Landeskriminalamt braucht, um die Nummer rauszukriegen?«
»Du meinst, sie könnten hierher kommen.«
»Nein, sie könnten nicht«, antwortete Charlotte ernst. »Sie werden . Wenigstens dein heimlicher Verehrer, dieser kleine Tom. Dem liegt nämlich was an dir.« Sie deutete auf den schmalen Gang auf der anderen Seite des Pools. »Wir sollten also Nora holen und schnell von hier verschwinden, bevor dein Freund auftaucht.«
»Tom würde mir nichts tun«, antwortete Lena spontan.
»Und seine Kollegen auch nicht?« Charlotte eilte weiter, öffnete die Verbindungstür zum Sauna-Bereich und hielt dann inne. Sie sah alarmiert aus.
»Was ist los?«, fragte Lena.
Charlotte machte eine unwillige Geste, still zu sein. »Ich … weiß nicht«, flüsterte sie zögernd. »Irgendwas …« Sie nahm die Hand vom Türgriff und sah sich aufmerksam um.
Lena tat es ihr gleich und lauschte mit der ganzen Schärfe ihrer neuen Sinne. Aber sie waren allein. Und trotzdem … Irgendetwas stimmte nicht. Jemand war hier, der nicht hierher gehörte; vielleicht auch etwas .
Lena gemahnte sich zur Ordnung. Das alles hier war auch so schon schlimm genug, ohne dass sie das Ihre dazu beitrug, sich selbst verrückt zu machen. »Was ist hier los?«, fragte sie noch einmal.
Vielleicht hatte Charlotte es ja schon vorher gespürt, aber nun roch Lena es ebenfalls: das Blut, das schwer und verlockend in der Luft lag, und das Nachbeben der Gewalt, die hier vor kurzem stattgefunden hatte.
Charlotte nahm eine geduckte Haltung ein. Sie verwandelt sich zwar nicht in ein graues Insekten-Ding, aber alles an ihr strahlte auf einmal Gefahr! aus.
Die Tür zur Sauna war nur angelehnt. Der Blutgeruch kam eindeutig von dort, aber da waren auch noch andere Dinge: das süße Aroma von Schmerz und Todesangst und noch unzählige andere Empfindungen, von denen keine einzige angenehm war.
Charlotte bedeutete ihr zurückzubleiben, stieß die Tür mit einer abrupten Bewegung auf und glitt hindurch, verharrte aber auf der anderen Seite so plötzlich, dass Lena um ein Haar
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