Wir sind die Nacht
hatte -, und im Prinzip interessierte es sie herzlich wenig, wie ein Haus aussah . Sie wollte ein warmes und einigermaßen sauberes Zimmer, dann und wann eine warme Mahlzeit und immer ausreichendes Futter für ihren MP 3 -Player, das war alles. Ihre Mutter und sie hatten schon in schlimmeren Schuppen gehaust.
Diese Kaschemme hier aber war … anders . Sie hatte vermutlich seit dem Tag ihrer Einweihung keinen Handwerker mehr gesehen, und hätte sie nicht der Stadt gehört, dann hätte das Bauamt sie vermutlich schon vor dreißig Jahren abreißen lassen. Die Flurbeleuchtung (wenn sie denn einmal komplett brannte) war so trüb, dass es schon so junger Augen wie der Lenas bedurfte, um das Treppensteigen nicht zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden zu lassen.
Die Wände waren mit Graffiti beschmiert, die einen aussichtslosen Kampf gegen den allgegenwärtigen Verfall und Schmutz führten, und überall lag Müll. Bewohner, die es sich nicht leisten konnten, zweimal die Woche in ein Steakhaus zu gehen und an den übrigen Tagen das Pizzataxi kommen zu lassen, hatten ihm in all den Jahren einen eigenen Geruch beschert, eine Mischung aus Kohl, kaltem Zigarettenrauch, Schweiß und Schimmel und hundert anderen und ausnahmslos unangenehmen Dingen. Der Gestank verfolgte sie manchmal bis in ihre Träume hinein, da halfen auch die zahllosen Duftkerzen nichts, die sie in ihrem Zimmer abbrannte. Die Wände waren so dünn, dass Lena sich nicht sonderlich anzustrengen brauchte, um den Gesprächen in den Wohnungen zu folgen, an denen sie vorüberkam.
Es waren allerdings nicht diese Äußerlichkeiten, die es ihr unmöglich machten, dieses Haus als ihr Heim zu betrachten.
Damit hätte sie leben können, ebenso wie mit den ständigen Streitereien, der Polizei, die so oft kam, dass die Streifenwagen praktisch schon ihren eigenen Parkplatz vor der Tür hatten, und den diversen Gerichtsvollziehern, die sich die Klinke in die Hand gaben, obwohl sie ganz genau wussten, dass ihre Besuche hier nichts als Zeitverschwendung waren. Vor zwei, drei Monaten hatte es eine ausgewachsene Messerstecherei zwischen zwei verfeindeten Mietparteien im ersten Stock gegeben - die eingetrockneten Blutflecken auf der Treppe waren noch immer zu sehen, weil sich niemand berufen gefühlt hatte, sie wegzuwischen -, und im zweiten Stock wohnte eine völlig durchgeknallte Alte, die manchmal ohne jede Vorwarnung aus der Tür gesprungen kam und jeden, dessen sie ansichtig wurde, beschuldigte, sie im Auftrag der CIA, des chinesischen Geheimdienstes oder im Zweifelsfall auch einer Verschwörung außerirdischer Bösewichte auszuspionieren.
Mit alledem hätte sie leben können … aber nicht mit dem Gefühl, einfach nicht hierher zu gehören . Nicht in dieses Haus, und nicht einmal in diese Welt. Sie war für etwas anderes bestimmt, etwas Besseres. Sie konnte sich, sooft sie wollte, selbst sagen, dass diese Einstellung ebenso arrogant wie verrückt war, aber das Gefühl blieb nicht nur, es wurde sogar mit jedem Mal stärker, wenn sie dieses Loch am unteren Ende der sozialen Leiter betrat.
Es gab auch Lichtblicke; zumindest einen, den sie auch jetzt sah, als sie den letzten Treppenabsatz vor der winzigen Dachgeschosswohnung erreichte. Er saß - wie beinahe immer - auf der untersten Stufe, balancierte ein Schachbrett mit billigen Plastikfiguren auf den Knien und spielte gegen sich selbst: ein dürres Kerlchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt und genauso schäbig gekleidet, wie auch sie es gewesen war, als sie das Haus am Vormittag verlassen hatte. Entsprechend überrascht sah er sie in ihrem roten Sommerkleid dann auch im ersten
Moment an, danach aber erschien genau der gespielterwachsene Ausdruck auf seinen Zügen, der es Lena von der ersten Sekunde an unmöglich gemacht hatte, ihn nicht ins Herz zu schließen.
»Hatte meine zukünftige Frau einen schönen Tag?«, fragte Mehmet.
O ja, ganz wunderbar. Schließlich kam es immer darauf an, von welchem Standpunkt aus man die Dinge sah. Immerhin hatte niemand auf sie geschossen. Wenigstens niemand, der auch getroffen hätte …
»Na ja«, seufzte sie. »Hätte schlimmer kommen können.«
Erschöpft ließ sie sich neben ihm auf die Treppenstufe sinken und betrachtete einen Moment lang die einfachen Plastikfiguren und ihre Stellung zueinander, dann seufzte sie noch tiefer und raffte sich zu dem freundlichsten Lächeln auf, das sie zustande brachte.
»Und wie geht’s meinem zukünftigen Göttergatten?«
Mehmets
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