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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Grinsen wurde nun vollends unwiderstehlich, und er reckte den Daumen zur Siegergeste nach oben. Die Figuren auf dem Schachbrett begannen bedrohlich zu wanken, aber Lena widerstand dem Impuls, die Hand auszustrecken und sie aufzufangen. Selbst wenn das gesamte Brett umfiel, würde Mehmet die Figuren in der richtigen Konstellation wieder aufstellen. Mehmet konnte so etwas. Er war ein erstaunlicher kleiner Bursche, der so wenig hierher gehörte wie sie.
    Und der so wenig wie sie je eine Chance bekommen würde, jemals ein anderes Leben zu führen, dachte sie traurig
    »Noch zehn Jahre bis zu unserer Hochzeit, Lena«, sagte Mehmet. »Abzüglich drei Monate.«
    »Dann wird es allmählich Zeit, dass du Ringe kaufst«, antwortete sie ernst.
    Mehmet zog eine Grimasse. »Bin pleite.«
    »Gehen die Geschäfte so schlecht?«, fragte Lena.

    »Das auch, aber mein Bruder hat mich abgezogen«, antwortete Mehmet. »Er braucht neue Reifen.«
    Mehmets Bruder hatte weder einen Führerschein noch einen Wagen und brauchte deshalb auch ganz bestimmt keine neuen Reifen, sondern vermutlich etwas, um sich das Näschen zu pudern. Lena fand ihn mindestens genauso unsympathisch, wie sie Mehmet mochte.
    »Das macht nichts«, sagte sie. »Ich nehme dich auch so. Wer braucht schon Geld?«
    »Hast auch keins, ich weiß«, sagte Mehmet mitfühlend. Sein Blick tastete noch einmal über das neue Kleid und blieb dann an ihren nackten Füßen hängen. Er stand schnell auf und stellte das Schachbrett auf den Boden. Lena half ihm - völlig überflüssigerweise - dabei und nutzte die Gelegenheit, drei ihrer vier brandneuen Fünfziger unter das Brett zu schieben, ohne dass er es merkte. Vermutlich würde Mehmets Bruder es doch nur in Koks umsetzen, aber so würde er Mehmet wenigstens ein paar Tage lang nicht verprügeln. Mehmet wusste nicht, dass sie es wusste, und wenn, dann hätte er sich vermutlich zu Tode geschämt, aber Lena wusste sehr wohl, dass er oft genug stahl, um seinen Bruder bezahlen zu können. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
    »Ist nicht viel«, sagte Mehmet. Er griff in die Hosentasche und kramte ein paar kleine Münzen hervor, die er ihr hinhielt. »Aber wenn du heute Abend noch Party machen willst …«
    Lena wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das Schlimme war, dass Mehmet das ernst meinte. Eine Sekunde lang sah sie ihn einfach nur an, dann küsste sie ihn zärtlich auf die Wange, nahm die knapp drei Euro von seiner ausgestreckten Hand und rannte die letzten Stufen die Treppe hinauf.
    »Hä?«, sagte Mehmet verdutzt, und dann - eine Sekunde nachdem er etwas Bestimmtes unter dem Rand seines Schachbretts entdeckt zu haben schien - rief er: »He!«

    Der Ruf ging im Klappen der Wohnungstür unter, die Lena hinter sich ins Schloss warf. Es war der endgültige Schritt ins Fegefeuer hinein. Die Wohnung war winzig und düster, und wie jedes Mal, wenn sie sie betrat, musste sie sich in den ersten Sekunden ganz bewusst auf das Luftholen konzentrieren, bevor ihr normaler Atemreflex wieder einsetzte und ihr Herz mit ein paar schnellen Schlägen den verlorenen Sauerstoff wieder wettzumachen versuchte.
    Mit dieser Wohnung war es wie mit dem ganzen Haus: Jedes Mal, wenn sie sie betrat, hatte sie ein winziges bisschen mehr das Gefühl, nicht hierher zu gehören; schlimmer noch: nicht willkommen zu sein. Sie fragte sich, wann wohl der Moment da war, an dem sie es gar nicht mehr über sich brachte, nach Hause zu kommen.
    Lena schüttelte den Gedanken ab. Heute war es jedenfalls noch nicht so weit. Ganz im Gegenteil, nach allem, was hinter ihr lag, erfüllten sie die schäbigen Wände mit einem Gefühl trügerischer Sicherheit. Vielleicht war das hier schon lange nicht mehr ein Heim, aber doch zumindest ein Ort, an dem ihr keine unmittelbare Gefahr drohte.
    Zumindest glaubte sie das für die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um die schäbige Diele zu durchqueren und das Wohnzimmer zu betreten.
    Wie immer lief der Fernseher - sie hatten das Gerät zum Einzug hier vor gut einem Jahr gekauft, und Lena glaubte nicht, dass ihre Mutter es seither auch nur ein einziges Mal ausgeschaltet hatte. Die Beleuchtung war bis auf einen einzelnen, dafür aber umso grelleren Spot auf ein mattes Glühen heruntergedimmt. Der Lichtstrahl war auf den Couchtisch gerichtet, auf dem ihre Mutter ihr privates Nagelstudio betrieb, schwarz und an der Steuer vorbei, aber mit so wenig Können und entsprechend geringem Erfolg, dass es das Finanzamt sowieso

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