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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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durchdringen. Das Licht kam von einem halben Dutzend seltsam geformter Glühbirnen, die auf einem kitschigen Kronleuchterimitat unter der Decke brannten. Tageslichtbirnen, vermutete sie, ohne den schädlichen Anteil an UV-Strahlen.
    Lena nahm ihr neues Domizil weiter in Augenschein. Noch vor einer Woche hätte sie es für ein halbwegs luxuriöses Hotelzimmer gehalten. Es maß vielleicht vier auf sechs Schritte, und es gab ein Bett, einen Kleiderschrank, die schmale Couch, auf der sie erwacht war, und sogar einen Fernseher, der deutlich größer als eine Briefmarke war.
    Es kam ihr schäbig vor. Anscheinend gehörte Luxus zu den Dingen, an die man sich am schnellsten gewöhnte.
    Sie erinnerte sich an Louises Worte, stand vorsichtig auf und wartete einen Moment, bis der neuerliche Schwindelanfall vorüber war. Offensichtlich hatte Louises Warnung nicht nur aus leeren Worten bestanden.
    Seltsamerweise fühlte sie sich zugleich so frisch und voller pulsierender Kraft wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte sich nur vorsichtig bewegen, um das Schwindelgefühl nicht sofort wieder anzufachen, hatte aber dennoch das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können.
    Das Zimmer war zwar alles andere als eine Suite, aber es gab eine Verbindungstür zum Nachbarraum, der sich als spiegelverkehrte Kopie des Zimmers erwies. Sie hatte erwartet, Charlotte schlafend oder gar bewusstlos vorzufinden, aber sie saß auf der Bettkante, rauchte eine Zigarette und starrte auf den Fernseher, über dessen Mattscheibe ein Schwarz-Weiß-Film aus den
Fünfzigerjahren flimmerte. Falls sie Lenas Eintreten überhaupt bemerkte, reagierte sie zumindest nicht darauf. Unter der Decke brannten die gleichen spiralförmigen Glühbirnen an einem identischen Kronleuchterimitat.
    »Ist … alles in Ordnung?«, fragte sie unbeholfen.
    Im allerersten Moment reagierte Charlotte auch jetzt nicht, und Lena setzte schon dazu an, eine intelligentere Frage zu stellen, aber dann riss Charlotte den Blick doch vom Fernseher los und drehte mit einer sonderbar mühsam wirkenden Bewegung den Kopf, um zu ihr hochzusehen. Ihr Gesicht war wieder so makellos schön, wie Lena es in Erinnerung hatte, aber sie sah noch erschöpfter aus als Louise.
    »Diesmal war es knapp«, sagte Charlotte. »Sie hätten uns beinahe erwischt.«
    Lena lauschte auf einen Unterton des Vorwurfs in diesen Worten, aber sie war sich nicht sicher. Da … war etwas in Charlottes Stimme, aber sie konnte nicht sagen, was es bedeutete. Sie fühlte sich hilflos.
    »War das meine Schuld?«, fragte sie.
    Charlotte nahm einen tiefen Zug, atmete den Rauch aber nicht wieder aus, was ein durch und durch unheimlicher Anblick war. Und sie zögerte eindeutig zu lange, bevor sie ihre Frage mit einem Kopfschütteln beantwortete.
    »Louise scheint es aber zu glauben«, sagte Lena.
    Charlotte zog noch einmal an ihrer Zigarette, ohne den Rauch wieder auszuatmen. »Nein«, sagte sie. »Louise versucht sich einzureden, dass es deine Schuld ist. Sie möchte gern dir die Schuld geben.«
    »Warum?«
    »Weil es einfacher zu ertragen ist, wenn man jemandem die Schuld geben kann«, antwortete Charlotte. »Aber mach dir keine Sorgen. Sie weiß, was wirklich passiert ist und dass dich nicht wirklich die Schuld trifft. Du hast es vielleicht …« Sie
schien nach Worten zu suchen. »… ein bisschen beschleunigt, aber früher oder später musste es wohl so kommen.«
    »Was?«, fragte Lena.
    »Anton«, antwortete Charlotte. Sie sah wieder zum Fernseher hin, und Lena fiel erst jetzt auf, dass er mit abgeschaltetem Ton lief. Dafür begannen sich Charlottes Lippen zu bewegen, und es dauerte keine Sekunde, bis Lena begriff, dass sie es vollkommen synchron zu den Lippenbewegungen der Schauspieler taten. Wie oft musste man wohl einen Film sehen, um die Dialoge mitsprechen zu können?
    »Was meinst du damit: Anton?«
    »Louise hat dir doch erzählt, dass seit zweihundert Jahren kein männlicher Vampir mehr erschaffen wurde, oder?«
    »Jedenfalls hat sie das behauptet«, antwortete Lena.
    »Und es stimmt auch«, sagte Charlotte, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Mit einer Ausnahme.«
    »Anton?«, fragte Lena.
    »Anton.« Charlotte zog wieder an ihrer Zigarette. »Er war damals einer von Stepans Schlägern. Ein absoluter Idiot mit dem Intelligenzquotienten einer Bratkartoffel - ganz wie du ihn erlebt hast. Das war vor zehn Jahren, als wir in die Stadt hier gekommen sind. Es gab ein paar … Probleme mit Stepan und seiner

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