Wir sind die Nacht
nur theoretischer Natur. Mehr. Sie brauchte mehr.
»Du musst jetzt aufhören, hast du verstanden?«
Das hatte sie, und sie wusste auch, dass die Stimme recht hatte, aber sie konnte nicht aufhören. Nicht jetzt.
Eine erstaunlich große Kraft versuchte ihre Kiefer auseinanderzuzwingen, aber Hunger und Verzweiflung verliehen ihr schier übermenschliche Energie. Sie brauchte mehr! Statt loszulassen, grub sie ihre Zähne noch tiefer in das warme Fleisch und schluckte immer schneller und gieriger. Mehr!
Ein Schlag traf sie im Gesicht und raubte ihr fast das gerade erst zurückgewonnene Bewusstsein, und als die Hand das
nächste Mal versuchte, ihre Kiefer auseinanderzuzwingen, hatte sie ihr nichts mehr entgegenzusetzen. Der berauschende Strom versiegte, und aus dem Hochgefühl in ihr wurde eine mindestens ebenso große Enttäuschung.
»Mach die Augen auf. Wir haben keine Zeit für Spielchen.«
Lena gehorchte, blinzelte in einen Orkan aus zerstörerischem gelbem Licht, presste die Lider erschrocken wieder zusammen und begriff erst dann, dass der grausame Schmerz, auf den sie wartete, nicht kommen würde. Vorsichtig hob sie die Lider ein zweites Mal und sah erneut in ein Meer aus goldfarbenem Licht, das ihr aber erstaunlicherweise nichts tat. Vielleicht war sie ja schon tot. Oder dieser verdammte Russe hatte sie doch ins Koma geprügelt, und jetzt wachte sie auf, und es waren gerade vierzig Jahre oder so vergangen. Das war nicht nur albern, es gab auch etwas, was nicht dazu passte: Louise, die sich über sie beugte und sie finster genug ansah, um auch noch das letzte bisschen hysterische Heiterkeit zu ersticken.
Lena setzte sich mit einem Ruck auf, sank aber stöhnend wieder zurück, weil ihr prompt schwindelig wurde.
»Was ich dir noch sagen wollte.« Louise zeigte nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. »Beweg dich nicht zu hastig, sonst wird dir schwindelig.«
Lena zählte in Gedanken langsam bis drei und versuchte es dann vorsichtig ein zweites Mal. Diesmal war es Louise, die sie grob zurückstieß.
»Bleib liegen«, fauchte sie. »Es dauert einen Augenblick, bis du dich ganz erholt hast. Ich habe keine Lust, auch noch deine Kotze wegzuwischen!«
Lena starrte Louise verdattert an, und ihr fiel auf, dass sie so müde und krank aussah wie nie zuvor. Schwarze Halbmonde lagen unter ihren Augen, und sie wirkte noch blasser als sonst. Ihre Lippen zitterten sacht und hatten ebenfalls jede Farbe verloren.
Sie erinnerten an eine weiße Narbe, die ihr Gesicht teilte. Dann fiel Lena noch etwas auf. Louise hatte die Rechte auf das linke Handgelenk gepresst. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und lief an ihrem Arm herab.
»War … ich das?«, fragte Lena erschrocken.
Louise nickte erst, schüttelte dann sofort den Kopf und nahm behutsam die Hand weg, um auf ihr blutiges Gelenk hinabzusehen. Die beiden stricknadeldicken Einstiche in ihrer Pulsader brodelten. Die Wunden begannen sich zu schließen, taten es aber viel langsamer, als Lena es erwartet hätte.
Louise zog eine Grimasse und antwortete endlich auf ihre Frage. »Ja, aber mach dir nichts draus. Das Aufhören ist das Schwerste. Man braucht Jahre, um es zu lernen. Manche lernen es nie. Nora hat es bis zum Schluss nicht gekonnt.«
»Nora.« Trauer überkam sie. »Das mit Nora tut mir leid. Ich …«
»Schon gut«, unterbrach Louise sie unwillig. »Darüber reden wir später. Kommst du erst mal allein klar?«
»Nein.«
Louise stand auf und verzog missmutig das Gesicht. Die beiden Bisswunden waren deutlich kleiner geworden, und sie bluteten auch nicht mehr so schlimm.
»Dann ist es ja gut«, sagte sie. »Ich muss kurz weg. Wenn du dich besser fühlst, dann geh nach nebenan und sieh nach Charlotte. Es geht ihr nicht besonders. Aber bleib im Zimmer, egal, was passiert. Und wenn du das Telefon anrührst, bring ich dich um.«
Das war ernst gemeint, das spürte Lena. Louise bedachte sie noch mit einem eisigen Blick, drehte sich dann um und warf die Tür hinter sich zu. Lena sah ihr noch einen Moment verwirrt nach und schwang dann vorsichtig die Beine von der schmalen Couch.
Wieder fiel ihr das goldfarbene Licht auf, das doch eigentlich
tödlich sein sollte, ihren Augen aber im Gegenteil eher schmeichelte und sie an etwas erinnerte, was sie vor langer Zeit verloren zu haben glaubte.
Sie sah zum Fenster. Die Vorhänge waren geschlossen und so dick, dass nicht einmal der Blitz einer explodierenden Wasserstoffbombe eine Chance gehabt hätte, sie zu
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