Wir sind die Nacht
zuständigen Schublade in ihrem Gehirn zutage gefördert. Das Gegenteil
war jedoch der Fall. Der Mann war kaum älter als Tom, hatte wache Augen und ein sympathisches Gesicht und trug einen eleganten Trenchcoat, und der Ausdruck der Freude in seinen Augen, als er Louise erblickte, war echt.
»Da bin ich«, stieß er leicht atemlos hervor. Sein Gesicht glänzte vor Nässe, obwohl er den Kopf gesenkt hielt, um dem Regen auszuweichen. »Es tut mir leid, wenn Sie warten mussten, aber der Verkehr ist mörderisch.«
»Es ist immer dasselbe, ich weiß«, sagte Louise. »Kaum fällt der erste Regentropfen, bricht alles zusammen. Wir sind auch gerade erst angekommen.«
»Dann muss ich kein schlechtes Gewissen haben?«, fragte er, während er einen Schlüssel aus der Manteltasche zog und ihn mit klammen Fingern ins Schloss nestelte.
»Wenn hier jemand ein schlechtes Gewissen haben muss, dann ich«, antwortete Louise. »Ich störe Sie wirklich ungern an ihrem wohlverdienten Feierabend, aber es ist sehr wichtig.«
»Das ist überhaupt kein Problem«, sagte er. Die Tür sprang mit einem Klicken auf, und dahinter erwachte automatisch eine altmodische Neonröhre zum Leben. »Dazu sind wir schließlich da. Wenn Sie bitte einen Moment warten, bis ich die Alarmanlage ausgeschaltet habe.«
»Wer ist das?«, fragte Lena, während der Banker hinter der Tür verschwand und lautstark herumzuhantieren begann.
»Keller?« Louise tat so, als müsste sie einen Moment angestrengt über diese Frage nachdenken. »Der Filialleiter hier. Ein Niemand, aber nützlich.«
»Bist du dir sicher, dass er uns nicht verrät?«, fragte Lena.
Louise lächelte nur, aber sie tat es auf eine Art, die Lena sofort bedauern ließ, die Frage überhaupt gestellt zu haben.
Keller kam zurück, hielt ihnen die Tür auf und machte eine übertrieben einladende Geste. Als sie an ihm vorbeigingen, wirkte er jedoch ein bisschen irritiert. Vielleicht war ihm ja aufgefallen,
dass sowohl ihre Kleider als auch ihre Gesichter und Haare vollkommen trocken waren.
Das Innere der Bank erwies sich als genauso schäbig wie ihr Äußeres: ein zerschrammter Tresen vor einem uralten Schreibtisch, auf dem ein antiquierter Röhrenmonitor fast die Hälfte des vorhandenen Platzes einnahm. Keller führte sie durch ein kleines, spartanisch eingerichtetes Büro, in dem es so durchdringend nach kaltem Zigarettenrauch stank, dass Lena fast die Luft wegblieb, kramte einen weiteren Schlüssel aus der Manteltasche und öffnete einen Stahlschrank, hinter dessen Tür sich Hunderte großer Schlüssel mit kompliziert aussehenden doppelten Bärten reihten. Praktisch ohne hinzusehen, nahm er einen davon vom Haken, schloss die Schranktür pedantisch wieder und bedeutete ihnen dann mit einer überflüssigen Geste, ihm zu folgen.
Über eine schmale, nur schwach erhellte Treppe ging es hinunter ins Souterrain, und dort wartete eine wirkliche Überraschung auf Lena. Der Tresorraum war riesig - größer als alles zusammengenommen, was sie oben gesehen hatte - und war nicht nur hinter einer fünfzehn Zentimeter dicken Stahltür verborgen, sondern auch aufs Modernste eingerichtet, inklusive eines Handabdruck-Scanners, mit dem Keller die Tür öffnete, und dezenten Videokameras, die so unter der Decke angebracht waren, dass es nicht den winzigsten toten Winkel gab.
Nicht dass sie außer dem Filialleiter selbst irgendetwas aufnehmen würden, dachte Lena. Aber ihre Anwesenheit beunruhigte sie trotzdem.
»Sie sind ausgeschaltet«, sagte Keller lächelnd.
Lena blinzelte »Was?«
»Die Kameras.« Keller deutete zur Decke hoch, und Lena begriff erst jetzt, dass er ihr das Unbehagen sehr deutlich angesehen haben musste. »Sie schalten sich automatisch aus, sobald
ich den Tresorraum mit einem Kunden betrete. Diskretion wird bei uns großgeschrieben.«
»Aber das wissen wir doch«, sagte Louise. Sie lächelte, aber in ihrer Stimme war auch eine Spur Ungeduld zu hören.
»Selbstverständlich«, antwortete Keller hastig. »Bitte, entschuldigen Sie.« Er wedelte mit dem Schlüssel, den er aus dem Stahlschrank genommen hatte, und in Louises Hand erschien wie aus dem Nichts sein eineiiger Zwilling. Nebeneinander gingen sie zu einem der Schließfächer (Lena war kein bisschen überrascht, dass es sich um eine der größten von buchstäblich Hunderten grauen Stahltüren handelte) und versenkten die Schlüssel synchron in den beiden Schlüssellöchern. Neben der Tür verlangten zwei blau leuchtende Sensortasten
Weitere Kostenlose Bücher