Wir sind die Nacht
hinter ihr wollte »leben«, und es würde dieses Ziel um jeden Preis verfolgen.
»Ich … glaube Ihnen nicht«, sagte Lummer zögernd.
Er kam einen weiteren Schritt näher, und Louise zog das Rasiermesser so tief durch Lenas Schulter, dass sie spüren konnte, wie die Stahlklinge über den Knochen schrammte. Sie hing plötzlich kraftlos in Louises eisernem Griff, und das Blut lief ihr in Strömen über die verheerte Wange und die Schulter. Lummer war stehen geblieben. In seinem Gesicht arbeitete es.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Lasst sie durch.«
Lena hatte nicht mehr die Kraft, den Kopf zu drehen, aber sie hörte, wie die Männer hinter ihnen zur Seite wichen. Das Heulen der Feuerwehrsirene schien jetzt rasend schnell lauter zu werden, aber vielleicht war es auch nur der pure Klang der Angst, der in ihren Ohren schrillte.
»Sie werden irgendwas versuchen, sobald wir draußen sind«, flüsterte Louise. »Tu einfach gar nichts. Ich kümmere mich schon um dich.«
Was sollte sie denn ihrer Meinung nach tun?, dachte Lena hysterisch. Nicht so auffällig sterben?
Und das würde sie. Ganz so weit schien es mit der Unsterblichkeit nicht her zu sein, die Louise ihr versprochen hatte. Sie spürte, wie das Leben ebenso rasch wie unaufhaltsam aus ihr herauslief. Und da war keine übernatürliche Macht, die es zurückhielt oder sie auf magische Weise beschützte. Nur Angst und das Gefühl einer unendlich großen Leere, die näher kam. Sie fühlte sich schwach und so unendlich müde.
Etwas Riesiges, Rotes brach in einem Chaos aus fliegenden Scherben und Trümmern und Lärm durch die Glasfront hinter ihnen, pflügte auf blockierenden Rädern durch die Halle und
schob eine Bugwelle aus zersplitterndem Mobiliar und panisch flüchtenden Menschen vor sich her. Ein Schuss löste sich, schlug Funken aus dem roten Monster und heulte als Querschläger davon. Die Sekunden danach verschmolzen zu einem einzigen Chaos, in dem die Dinge nicht mehr in der richtigen Reihenfolge und schon gar nicht mehr logisch abzulaufen schienen. Mindestens einer der SEK-Männer reagierte zu spät und verschwand mit einem Schrei unter dem Wagen. Louise zerrte Lena ins Führerhaus hinauf, dessen Tür von innen aufgestoßen wurde. Noch mehr Glas und Mobiliar zerbarsten, als der Wagen mit aufheulendem Motor zurücksetzte und sich mit einem schrillen Kreischen in der Metallkonstruktion des Fensterrahmens verfing.
Als Charlotte das Gaspedal bis zum Boden durchtrat, gab es einen harten Ruck, und das schwere Fahrzeug sprang rückwärts auf die Straße hinaus.
Louise schleuderte Lena in den Fußraum der Fahrerkabine, riss die Tür hinter sich zu und tauschte mit einer einzigen Bewegung den Platz mit Charlotte, die wimmernd auf dem Sitz über ihr zusammenbrach. Ihr Kleid und ihr Haar waren verschwunden, und ihre Haut hatte sich nahezu vollkommen schwarz gefärbt, war zugleich aber auch von unzähligen glühenden Rissen und Linien bedeckt, wie ein Lavakissen, dessen feuriges Herz noch lange nicht erloschen war.
Wieder fielen Schüsse, eine ganze Salve diesmal, die diagonal über die Windschutzscheibe steppte und sie in ein Gewirr aus Millionen ineinanderlaufender Sprünge verwandelte, wie durch ein Wunder aber nicht durchschlug. Louise fluchte, hämmerte den Vorwärtsgang hinein und gab so brutal Gas, dass der Motor auszugehen drohte.
Stattdessen vollführte er aber einen plötzlichen Satz, verwandelte zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei in Schrott, indem er sie einfach aus dem Weg schleuderte, und stob mit qualmenden Reifen auf die Straße hinaus.
»Reiß dich zusammen!«, fauchte Louise. »Hilf ihr!«
Lena hätte eher jemanden gebraucht, der ihr half, aber Louises Worte waren auch jetzt so zwingend, dass sie gar nicht anders konnte, als sich zu Charlotte auf die breite Bank hinaufzuziehen und sie in die Arme zu schließen.
Im nächsten Moment schrie sie vor Schmerz auf, weil grelles Sonnenlicht wie der Strahl eines Flammenwerfers über ihren Rücken strich und sie zu verzehren begann. Louise fluchte ungehemmt in einer Sprache, die sie nicht verstand, kurbelte mit einer Hand an dem riesigen Lenkrad und stieß Charlotte und sie mit der anderen in den Fußraum zurück. Barmherzige Schatten hüllten sie ein, und das Gefühl, von innen heraus zu verbrennen, sank auf ein halbwegs erträgliches Maß herab. Wie Charlotte die ungleich größere Qual aushalten mochte, wagte sie sich nicht vorzustellen.
»Bleibt unten!«, befahl Louise. »Gleich ist es
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