Wir sind die Nacht
hatte das Gefühl, Zeugin eines ebenso stummen wie erbittert geführten Duells zu werden. Sie konnte unmöglich sagen, wer es gewann oder ob es überhaupt eine Siegerin gab. »Wir fliegen übermorgen.«
»Und so lange bleiben wir hier?« Lena konnte sich nicht vorstellen, dass das funktionierte. Dieses Hotel hatte rein gar nichts mit der Art von Etablissements zu tun, in denen Louise und die anderen normalerweise zu logieren pflegten, aber sie kannte Tom mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um sie zu finden.
Der Gedanke … verwirrte sie. Es war totaler Unsinn. Sie kannte Tom kein bisschen. Zusammengenommen hatten sie noch keine Viertelstunde miteinander geredet, und wenn überhaupt, so gehörte er eindeutig ins gegnerische Lager; und das nicht erst, seit sie zu etwas geworden war, von dem sie nicht wusste, ob man es wirklich noch einen Menschen nennen konnte. Und dennoch war da zugleich etwas ungemein Vertrautes; eine sonderbare Wärme, die sie erfüllte, wenn sie nur seinen Namen dachte; als wäre er tatsächlich ein Stück von ihr, dessen Fehlen ihr körperliches Unbehagen bereitete.
»Ich muss noch ein paar Vorbereitungen treffen«, fuhr Louise fort, wohl um das Thema zu wechseln. »Ruht euch noch ein bisschen aus. In zwei Stunden geht die Sonne unter, und dann verschwinden wir von hier. Für immer.«
28
Lena hätte erwartet, dass es eine große Bank war, irgendeiner der Marmor- oder Chrom-und-Glas-Paläste, von denen es in dieser Stadt nur so wimmelte, aber das Gegenteil war der Fall: Die Filiale lag in einer Gegend mit eher bescheidenen Häusern, in der der schwarze Hummer genauso auffiel, wie es der Jaguar der Russen vor ihrem Haus getan hatte, und sie war so klein, dass sie nicht einmal einen eigenen Geldautomaten besaß, jedenfalls nicht außen. Der diskrete Schriftzug auf der Drahtglastür sagte ihr nichts, die obszönen Graffiti auf der Wand daneben dafür umso mehr.
Charlotte sah zum ungefähr fünfzehnten Mal innerhalb deutlich weniger Minuten auf die Uhr und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Louise kam ihr zuvor.
»Er kommt schon, keine Sorge«, sagte sie.
»Wieso bist du dir da so sicher?«, wollte Lena wissen.
Wenn man es genau nahm, dann wusste sie nicht einmal wirklich, auf wen sie eigentlich warteten. Die zwei Stunden, von denen Louise gesprochen hatte, hatten zwar schier kein Ende nehmen wollen, aber Charlotte hatte sich tatsächlich wieder hingelegt und fast die ganze Zeit geschlafen, und in den wenigen Minuten, in denen sich Louise im Zimmer aufgehalten hatte, hatte sie sich als ungewöhnlich schweigsam erwiesen.
»Weil er weiß, dass ich ihn sonst umbringe.« Louise weidete
sich einen Moment lang ganz unverhohlen an ihrem erschrockenen Gesicht und lachte dann. »Das war ein Scherz.«
Lena war sich ganz und gar nicht sicher, ob das stimmte, aber sie zwang sich trotzdem zu einem nervösen Lächeln, wandte sich dann ab und sah durch die getönten Scheiben nach draußen. Vielleicht war es doch besser gewesen, als Louise nicht mit ihr gesprochen hatte.
Es war zwar dunkel geworden, aber noch früher Abend. Auf der Straße hätten trotz des leichten Nieselregens, der mit Einbruch der Dämmerung begonnen hatte und den Asphalt in einen zerkratzten schwarzen Spiegel verwandelte, Menschen sein müssen. Aber es war niemand zu sehen, und das letzte Auto war vor gut fünf Minuten vorbeigekommen. Es war, als hielte die Stadt ringsum den Atem an.
Lena verscheuchte den albernen Gedanken. Ihre Lage war weiß Gott schon unangenehm genug, auch ohne dass sie ihrer Fantasie erlaubte, hinter jedem Schatten ein Gespenst und jedem Zufall eine Verschwörung zu sehen.
»Da kommt er«, sagte Louise.
Lena sah in den Rückspiegel und erblickte ein Scheinwerferpaar, das langsam durch den Regen herankroch und vielleicht zwanzig Meter entfernt in eine Parklücke einschwenkte. Sie sparte sich die Frage, woher Louise wissen wollte, wer in diesem Wagen saß. Sie wusste es, so einfach war das.
Sie warteten, bis der Wagen angehalten hatte und der Fahrer näher kam, und stiegen genau im richtigen Moment aus, um vor der Tür mit ihm zusammenzutreffen. Lena war ein wenig überrascht. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte - wahrscheinlich nichts -, aber der Anblick dieser schäbigen Bankfiliale in einer kaum weniger schäbigen Straße hatte Assoziationen an ein verhärmtes altes Männchen mit verkniffenem Mund und schütterem Haar aus der für Klischees
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