Wir sind die Nacht
Poltern und ein gedämpftes Stöhnen. Die Luft war mit einem Mal mit süßlichem Blutgeruch geschwängert. Ihr Magen knurrte.
Der Killer war aus der Verbindungstür zur eigentlichen Wache gekommen. Lena machte einen geduckten Schritt in diese Richtung, hielt dann aber noch einmal an und lauschte. Gedämpfte, aber aufgeregte Stimmen redeten wild durcheinander, und Gewaltbereitschaft lag wie etwas Greifbares in der Luft. Sie konnte Angst riechen, und das Raubtier in ihr wurde mit jeder Sekunde stärker. Ihr Jagdinstinkt war nicht nur erwacht, sondern wurde mit jedem Atemzug machtvoller. Da war noch ein winziger Teil in ihr, den der Anblick des Toten mit kaltem Entsetzen erfüllte, aber er wurde immer schwächer, und ihre Furcht explodierte regelrecht, als sie begriff, dass sie bald nicht einmal mehr die Rolle des Beobachters spielen, sondern einfach verschwinden würde. Vollkommen absorbiert von dem Monster, das in ihr heranwuchs.
Statt weiterzugehen, huschte sie in die entgegengesetzte Richtung, wo es eine weitere grün lackierte Tür gab. Sie war nur angelehnt, und der intensive Geruch nach Blut und Fäkalien schlug ihr entgegen, noch bevor sie sie behutsam aufzog.
Die junge Polizistin lag dahinter auf dem Boden, einen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht und ein schon fast absurd kleines rotes Loch in der Stirn. Das in ihrem Hinterkopf musste deutlich größer sein, denn er lag in einer dampfenden, unendlich süß riechenden Blutlache, die immer noch größer wurde, und eine Sekunde lang kostete es sie all ihre Kraft, sich nicht auf diesen verlockenden Trank zu stürzen und sich daran zu laben. Sie brauchte ihn. Sie war so unendlich hungrig, und
sie brauchte die Kraft, die ihr dieses Blut geben würde, um für den bevorstehenden Kampf bereit zu sein. Der Gedanke, ihm auszuweichen, kam ihr nicht. Sie ließ sich in die Hocke sinken und beugte sich weiter vor, um das Blut zu trinken, und hinter ihr sagte Charlottes Stimme laut und deutlich: »Tu das nicht! Nie, unter keinen Umständen! Hast du verstanden?«
Lena fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum.
Sie war allein. Hinter ihr war nur der leere Gang. Keine Charlotte.
Lena war verwirrt. Sie war allein, ganz zweifellos, aber sie hatte die Stimme doch gehört, und sie hatte Charlottes Nähe gespürt!
Alarmiert drehte sie sich einmal um sich selbst und sah sich dabei aufmerksam um. Der Raum war schmal, aber lang gestreckt. Beide Wände wurden von einförmigen grünen Metallspinden flankiert, und am anderen Ende gab es einen offenen Durchgang zu den Duschkabinen, daneben eine weitere, nur angelehnte Metalltür, hinter der das Dunkel der Nacht lockte. So also waren sie hereingekommen.
Einen Moment lang wusste Lena nicht, was sie mehr erschrecken sollte: der Gedanke, dass irgendjemand die Kerle hereingelassen haben musste, oder der, dass sie an der Tür vorbeigekommen waren, hinter der Tom und sie miteinander gesprochen hatten.
Aber im Grunde spielte es auch keine Rolle. Die Tür war offen, und dahinter lockte die Sicherheit der Nacht, und das war alles, was zählte.
Mit einem übertrieben großen Schritt trat sie über die tote Polizistin hinweg, huschte hin und zog die Tür lautlos weiter auf. Kühle Luft strömte ihr entgegen, die betörende Dunkelheit der Nacht, die sie wie eine beschützende warme Decke einhüllte und ihr zusätzliche Kraft und Sicherheit verlieh, und die Verlockung der Freiheit.
Sie lauschte. Jemand war dort draußen, außerhalb ihres Sichtfeldes, aber nur wenige Schritte entfernt. Sie konnte seine Atemzüge hören und seinen Schweiß riechen - ein Posten, den sie zurückgelassen hatten, falls irgendjemandem doch die Flucht gelingen sollte. Er war angespannt und sehr aufmerksam, aber das war trotzdem lächerlich. Lena wusste, dass sie sich an ihn anschleichen und ihn töten konnte, ohne dass er auch nur ahnen würde, dass sie da war. Und dann -
- würde Tom sterben.
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie ebenso gut zurückgehen und ihn selbst töten konnte, wenn sie jetzt floh. Stepans Killer würden ihn nicht am Leben lassen, ebenso wenig wie irgendjemand anderen in dieser Wache. Der Gedanke kam ihr … monströs vor, aber der Leichnam der Polizistin hinter ihr bewies, wie wenig den Kerlen ein Menschenleben wert war. Sie würden gewiss keine Zeugen zurücklassen.
Statt zu tun, was ihr Verstand ihr riet, gab sie dem Drängen jener düsteren Stimme in sich nach, machte kehrt und schlich lautlos wieder zurück. Als sie an dem toten
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