Wir sind die Nacht
ihnen und wollte Stepan von ihr wegstoßen.
Es blieb bei dem Versuch, denn der Strigoi rührte sich nicht einen Zentimeter von der Stelle.
Immerhin ließ er von Lena ab und drehte sich zu Lummer um. »Halt dich da raus!«, zischte er. »Das hier geht dich nichts an!«
Lummer dachte offensichtlich nicht daran, sich rauszuhalten. Er trat rasch einen Schritt zurück und hob seine Waffe. »Das reicht!«, sagte er. »Zurück, und die Hände hoch!«
»Und wenn nicht?«, sagte Stepan lächelnd.
»Du … du bist ja … ja vollkommen … vollkommen wahnsinnig!«
»Ja, das sagt man mir nach«, entgegnete Stepan. »Aber ich höre es nicht besonders gern.« Er zeigte auf den großkalibrigen Revolver in Lummers Hand. »Wieso zielst du mit einer Waffe auf mich, Towarischtsch?«
»Geh zurück!«, keuchte Lummer. »Geh zwei Schritte zurück, und nimm die Hände hoch, oder ich schwöre dir, dass ich dich erschieße!«
»Was soll das, mein Freund?«, sagte Stepan. »Wir hatten eine Vereinbarung, nicht wahr?«
»Aber doch nicht so!«, stammelte Lummer. Seine Stimme war kurz davor umzukippen. »Du … du bist ja völlig … wahnsinnig geworden!«
»Wenn du das wirklich glaubst, dann solltest du mich erschießen, mein Freund«, sagte Stepan lächelnd. »Weißt du denn nicht, dass man eine Waffe nur dann auf einen Mann richten sollte, wenn man auch bereit ist, sie zu benutzen?«
Lummer stammelte irgendeine Antwort, die wahrscheinlich gar nichts bedeutete, und Stepan schüttelte bedauernd den Kopf, hob den Arm und umschloss Lummers Waffenhand mit seiner gewaltigen Pranke.
»Warte, Gospodin«, sagte er, »ich helfe dir.«
Mit dem Daumen drückte er Lummers Zeigefinger samt Abzug nach hinten, und die Waffe entlud sich mit einem gewaltigen Krachen und einem orangeroten Blitz, der Stepans Brust nahe genug kam, um sein weißes Hemd zu versengen. Stepan wankte, als die Kugel seinen Körper glatt durchschlug und auch noch ein faustgroßes Loch in die Wand auf der anderen Seite des Zimmers stanzte.
»Autsch!«, sagte er. »Das hat jetzt aber richtig wehgetan.«
Lummers Augen quollen ein Stück weit aus den Höhlen. Die Kinnlade klappte ihm herunter, aber er brachte noch nicht einmal mehr ein Keuchen zustande.
»Du kannst es gern noch mal versuchen«, sagte Stepan und tippte sich gegen die Stirn. »Vielleicht solltest du diesmal hierhin zielen, nur um sicherzugehen. Aber ich muss dich warnen. Das würde noch weit mehr wehtun, und dann könnte ich etwas heftig reagieren. Ich bin kein sehr beherrschter Mann, Towarischtsch.«
»Aber …«, stammelte Lummer. »Aber …«
Stepan stieß ihn so heftig gegen die Wand, dass er zu Boden fiel und die Waffe klappernd davonschlitterte, verlor schlagartig jedes Interesse an ihm und bückte sich wieder zu Lena, um
sie hochzureißen. Lena spannte sich, weil sie damit rechnete, wieder geschlagen zu werden, doch diesmal beließ er es dabei, sie unsanft gegen die Wand zu stoßen.
»Wo sind die anderen?«, fragte er. »Sag mir, wo die anderen sind, und ich mache es schnell.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie …«, begann Lena, und Stepan griff nach ihrer Hand, umschloss sie mit seiner riesigen Pranke und brach ihr mit einer einzigen Bewegung sämtliche Finger. Lena wimmerte vor Schmerz und musste schon wieder gegen die Ohnmacht ankämpfen.
»Du wirst es mir verraten, Schätzchen«, versprach er. »Weißt du, das Schöne an Leuten wie uns ist, dass ich dieses Spielchen so lange fortsetzen kann, wie ich will. Wochen. Monate, wenn es sein muss.«
Lena schwieg. Er hatte ihre Hand längst wieder losgelassen, aber nun spürte sie, wie sich die zertrümmerten Knochen wieder zusammenfügten.
»Wie du willst«, sagte Stepan kalt. Er riss sie herum, drehte ihr den Arm so hart auf den Rücken, dass sie nun doch aufstöhnte, und wandte sich noch einmal an Lummer. »Eigentlich sollte ich dich töten, mein Freund«, sagte er, »immerhin hast du auf mich geschossen. Aber weißt du, was? Ich lasse dich lieber am Leben und schaue dabei zu, wie du das hier deinen Kollegen zu erklären versuchst.«
Lummer rief ihm mit lauterer - aber genauso unverständlicher - Stimme noch etwas nach, und Lena hörte, wie er über den Boden zu kriechen begann. Vielleicht war er ja tatsächlich dumm genug, noch einmal auf Stepan zu schießen und ihn damit richtig wütend zu machen.
Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Stepan stieß sie durch das Loch in der Wand zurück in den Wachraum, der sich in ein Schlachthaus verwandelt hatte.
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