Wir sind die Nacht
denen etwas Neues und Erschreckendes erschien. »Was … bedeutet … das?«, brachte er nur noch flüsternd heraus.
»Das kann ich dir nicht erklären«, antwortete sie. »Und du solltest nicht fragen. Versuch nicht, die anderen zu finden. Oder mich. Es wäre dein Tod.«
»Dich?« Tom machte ein hilfloses Gesicht, aber in seinen Augen flackerte immer noch ein Ausdruck von nur noch mühsam unterdrückter Hysterie. »Ich weiß ja nicht, ob du es wirklich begriffen hast - aber du bist hier.« Er deutete auf die Handschellen. »Und gefesselt.«
»Aber ich werde nicht bleiben«, antwortete sie ruhig. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert, das ist der einzige Grund, aus dem ich gekommen bin. Ich …« Liebe dich? Die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber sie sprach sie nicht aus, und wie auch? Das war albern. Sie kannte ihn ja kaum. Und wenn es jemals eine Chance gegeben hatte, mehr aus diesem Kaum zu machen, dann hatte sie sie in genau dem Moment verspielt, in dem sie diesen verdammten Club betreten hatte.
»Ich will nicht, dass dir was passiert«, sagte sie stattdessen nur noch einmal.
Tom sah sie auf eine Art an, als hätte er genau gehört, was in der winzigen Pause hinter ihrer Stirn vorging. Dann, ganz plötzlich,
lächelte er, und aus dem Entsetzen in seinem Blick wurde etwas, was ihr Herz wie eine warme, weiche Hand berührte. »Das will ich auch nicht«, sagte er. »Aber ich will auch nicht, dass dir etwas passiert, Lena. Sag mir die Wahrheit. Erzähl mir alles, was passiert ist, ganz egal, wie verrückt es sich anhört. Ich helfe dir, aber das kann ich nur, wenn ich auch wirklich alles weiß.«
Lena resignierte. Auf eine seltsam distanzierte Art war sie enttäuscht, obwohl ihr Verstand ihr zu erklären versuchte, dass sie nicht das mindeste Recht dazu hatte. Sie konnte kaum erwarten, dass er binnen weniger Augenblicke alles vergaß, woran er ein Leben lang geglaubt hatte.
»Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie bedauernd. »Versuch nicht, mich zu finden. Bitte.«
Tom blinzelte. »Wie?«
Es geschah fast ohne ihr Zutun. Ihre Muskeln spannten sich nur ganz kurz an und ohne auch nur einen Bruchteil ihrer ganzen gewaltigen Kraft zu entfesseln, und die Handschellen zerbrachen mit einem sonderbar weichen Laut, der eher wie das Platzen von Popcorn klang, nicht nach reißendem Metall. Toms Augen wurden groß.
Trotzdem reagierte er mit unglaublicher Schnelligkeit. Noch bevor die beiden zerrissenen Kettenglieder auf den Boden fielen, griff er unter die Jacke und versuchte seine Waffe zu ziehen. Seine Reflexe waren beinahe so schnell wie die Lenas.
Aber eben nur beinahe. Sie war so schnell bei ihm, dass sie einfach zu verschwinden und sich im gleichen Sekundenbruchteil wieder vor ihm zu materialisieren schien. Ihre Hand zuckte hoch, schloss sich um seine Finger und presste sie mit solcher Kraft um den Pistolengriff zusammen, dass er vor Schmerz aufstöhnte und es ihm unmöglich wurde, die Waffe zu ziehen. Gleichzeitig drückte sie ihn mit der Schulter gegen die Tür und blockierte mit dem Knie seine Beine; alles in einer einzigen, vor
seinen Augen ineinanderfließenden Bewegung, die sie zu einem bloßen Schatten werden ließ, der ihn im Bruchteil eines Augenblicks bewegungsunfähig machte. Ganz instinktiv versuchte er mit der freien Hand nach ihr zu schlagen. Lena hätte dem Hieb mühelos ausweichen können, aber sie nahm ihn hin, ohne mit der Wimper zu zucken, und drückte ihn nur noch fester gegen das harte Metall der Tür.
Tom holte zu einem zweiten Schlag aus, und sie biss die Zähne zusammen, doch dann ließ er den Arm wieder sinken, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. In seinem Blick war auch keine Feindseligkeit, nicht einmal Schrecken - nur eine grenzenlose Verwirrung.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Bitte verzeih mir. Und versuch nicht, mich zu finden.«
Und damit ließ sie seine Hand los, zwang seinen Kopf mit sanfter Gewalt zu sich herab und küsste ihn, nur kurz, aber so intensiv und (vielleicht zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben) aus einem Gefühl reiner, bedingungsloser Zuneigung heraus. Ihr Atem ging schwer, als sich ihre Lippen endlich voneinander lösten, und den Ausdruck auf Toms Gesicht und in seinen Augen konnte sie unmöglich in Worte fassen.
Aber er brach ihr das Herz.
»Verzeih mir, Liebster«, flüsterte sie. Noch vor einem Tag hätte sie über diese Worte gelacht, klangen sie doch so sehr nach etwas aus den kitschigen Romanen, die ihre Mutter so gern gelesen hatte.
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