Wir sind die Nacht
Aber plötzlich verstand sie, warum Menschen Geschichten wie diese lasen und warum sie Worte wie diese sagten. Sie wollte ihn nicht verlieren. Sie wollte nicht gehen. Sie wollte hier und für alle Zeiten bei ihm bleiben, ganz egal, was es sie kostete, und wäre es nur um sie gegangen, vielleicht hätte sie es getan. Oder es zumindest versucht.
Aber es ging nicht nur um sie.
Also trat sie einen halben Schritt zurück, schob ihn mit beiden
Händen sacht noch ein weiteres Stück von sich fort und griff dann in seine Jackentasche, um sein Handy herauszunehmen. Ohne sich anzustrengen, zerquetschte sie das kleine Gerät in der Hand, sah sich suchend im Raum um und entdeckte das Telefon auf dem kleinen Tischchen gleich neben der Tür. Sie zerstörte es ebenfalls und drehte sich dann sofort wieder herum, falls Tom seine Überraschung doch schneller überwinden sollte, als sie annahm, und etwa zu fliehen versuchte.
Aber er stand einfach nur da und starrte sie an. Er hatte die Waffe gezogen, aber nicht, um damit auf sie zu schießen oder sie auch nur zu bedrohen, vermutlich sogar, ohne es selbst zu merken. Da war noch so viel, was sie ihm sagen wollte. So viel, was sie ihm erklären wollte, und so unendlich viel mehr, wofür sie ihn um Verzeihung bitten wollte, doch ganz egal, was immer sie auch gesagt hätte, es hätte den Moment nur schlimmer gemacht, und so wich sie seinem Blick aus, eilte an ihm vorüber und verließ nicht nur den Raum, sondern brach auch die Klinke auf beiden Seiten ab, bevor sie die Tür hinter sich ins Schloss zog. Natürlich würde ihn das nicht lange aufhalten, bestenfalls ein paar Minuten. Aber mehr brauchte sie auch nicht.
Die erste Kugel traf sie in die Schulter, noch bevor sie sich ganz herumgedreht hatte. Der Schuss war schlecht gezielt und riss nur ein hässliches Loch in ihre Muskeln. Die Waffe musste mit einem Schalldämpfer versehen sein, denn sie hörte nichts außer einem gedämpften Plopp, dafür aber fuhr das Geschoss mit umso gewaltigerem Getöse in die Wand hinter ihr, gegen die sie im nächsten Augenblick von der puren Wucht des Aufpralls geschleudert wurde.
Vielleicht rettete es ihr das Leben, denn noch während sie in die Knie brach und mit zusammengebissenen Zähnen einen Schmerzensschrei zu unterdrücken versuchte, fielen zwei weitere schallgedämpfte Schüsse; der eine stanzte ein doppelt
faustgroßes Loch genau dort in die Wand, wo sich ihr Kopf befunden hätte, wäre sie nicht gestürzt, der zweite prallte funkensprühend von der Metalltür neben ihr ab und löste eine zweite Explosion aus Staub und Steinsplittern aus, als er in die Decke fuhr.
Was dann geschah, war beinahe noch erschreckender, obwohl sie es schon einmal während des Überfalls im Club erlebt hatte, wenn auch nicht annähernd so intensiv: Sie schien zu einem Gefangenen in ihrem eigenen Körper zu werden, nicht viel mehr als ein (widerwillig) geduldeter Gast, der zur Rolle eines bloßen Zuschauers reduziert war. Ein weiterer Schuss fiel, doch noch bevor das sonderbar gedämpfte Geräusch an ihr Ohr drang, fuhr sie herum und verwandelte sich in einen huschenden Schatten, der die Entfernung zu dem heimtückischen Schützen mit einem einzigen lautlosen Satz überwand. Sie schlug ihm mit der linken Hand die Waffe aus der Hand und zerriss ihm mit der anderen die Kehle und das Gesicht. Das Ungeheuer in ihr schrie vor unstillbarer Gier auf, als es den Geruch des warmen, lebendigen Blutes wahrnahm.
Erst als er mit einem röchelnden Laut zu Boden ging und beide Hände in dem vergeblichen Versuch vor die Kehle schlug, das Leben zurückzuhalten, das in einem sprudelnden roten Strom aus ihm herausschoss, fragte sich der logisch denkende Rest in ihr, seit wann Polizisten eigentlich Schalldämpfer benutzten. Er trug auch keine Uniform, sondern einen modischen Sommeranzug, ein weißes Hemd und maßgeschneiderte Schuhe, und man sah ihm seine osteuropäische Herkunft so deutlich an, dass er sich ebenso gut auch gleich einen roten Stern auf die Stirn hätte tätowieren lassen können.
Es war einer von Stepans Männern.
Sie hatten sie gefunden.
Ohne es bewusst zu registrieren, fing sie den Sterbenden auf, ließ ihn behutsam zu Boden sinken und bückte sich dann nach
seiner Waffe, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern stieß sie stattdessen angewidert mit dem Fuß davon. Hinter ihr hämmerte Tom heftig gegen die Metalltür, und jetzt hörte sie auch andere Geräusche: aufgeregte Stimmen, emsiges Hantieren und
Weitere Kostenlose Bücher