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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Gegenteil. Aber deshalb bin ich nicht …«
    »Du weißt also doch etwas«, fiel ihr Tom ins Wort. »Verdammt, wie tief steckst du da eigentlich drin?«

    »Tiefer, als ich es dir erklären könnte«, antwortete Lena. »Und auf eine völlig andere Weise.« Sie schüttelte den Kopf, als Tom sie unterbrechen wollte. »Aber das ist im Moment auch egal. Ich bin nur gekommen, um … dich um etwas zu bitten.«
    »Gekommen?«, sagte Tom spöttisch.
    »Zu dir«, antwortete Lena. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass dein Kollege dir so sehr misstraut, dass er deine Wohnung observieren lässt … und du auch nicht, nehme ich an?«
    Tom ignorierte die Frage. »Ich will dir helfen, Lena«, sagte er und klang jetzt beinahe schon ein bisschen verzweifelt. »Aber das kann ich nur, wenn du ehrlich zu mir bist. Sag mir, wo wir deine drei Freundinnen finden.«
    »Das kann ich nicht«, antwortete Lena.
    »Aber du weißt, was das bedeutet?«, fragte Tom. »Irgendjemand wird für das bezahlen müssen, was heute passiert ist. Willst du wirklich den Kopf für etwas hinhalten, womit du wahrscheinlich am allerwenigsten zu tun hast?«
    »Du verstehst mich nicht«, sagte Lena. »Ich kann es dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß.«
    »Sie haben dich sitzen lassen.« Tom lachte bitter. »Sie setzen sich ab, und du darfst die Suppe allein auslöffeln - und du glaubst immer noch, du wärst ihnen etwas schuldig?«
    »Du verstehst es einfach nicht«, sagte Lena traurig. »Sie … sind keine Menschen.« So wenig wie ich.
    »Jetzt wird es allmählich lächerlich«, sagte Tom. »Worauf willst du hinaus? Dass man dich für unzurechnungsfähig erklärt und in die Klapse einweist? Überleg dir das lieber genau, Lena. Ich kenne den Unterschied, glaub mir. Geh lieber ins Gefängnis, das ist nicht annähernd so schlimm.«
    »Du hast es doch gesehen.« Lena konnte ihn sogar verstehen. Wäre sie an seiner Stelle gewesen - und ohne das zu wissen, was sie nun einmal wusste -, hätte sie vermutlich genauso reagiert. Sie drehte ihm die gefesselten Händen zu, dass er ihr
Handgelenk sehen konnte, wo eigentlich eine frische, bis auf den Knochen reichende Wunde sein sollte und sich doch nur glatte und vollkommen unversehrte Haut spannte.
    »Ich … weiß nicht, was ich gesehen habe«, antwortete er ausweichend. Er sah sie nicht an, und ihre unversehrte Hand schon gar nicht. Und auch das hätte sie an seiner Stelle vermutlich ganz genauso gemacht. Aus ihrem leisen Ärger über seine vermeintliche Sturheit wurde nichts anderes als tiefes Mitgefühl, als ihr klarwurde, um wie viel schwerer es für ihn sein musste, etwas zu akzeptieren, was sie selbst noch nicht wirklich begriffen hatte, obwohl sie es am eigenen Leib erlebte. Schließlich war er Polizist, ganz und gar verwurzelt in der Welt der Logik, einer Welt, die vielen vielleicht erschreckend und gewalttätig und bizarr vorkommen mochte, dennoch aber klaren Gesetzen gehorchte, und deren Rätsel - egal, wie vertrackt sie auch sein mochten - am Ende doch nur mit Logik und strengem Nachdenken zu lösen waren. Wie sollte sie ihm etwas erklären, was nicht nur nicht in sein, sondern in überhaupt kein Weltbild passte?
    Trotzdem machte sie eine Kopfbewegung zur Kamera in der Ecke. »Warum tust du nicht, was dein Kollege von dir verlangt hat, und machst ein hübsches Foto von mir?«
    »Hör auf mit dem Unsinn«, knurrte er. »Lummer wollte lediglich …«
    »Tu es einfach«, unterbrach sie ihn.
    Tom sah sie noch einen Moment lang durchdringend an, aber dann nahm er die Kamera vom Stativ und machte rasch hintereinander drei Aufnahmen. »Zufrieden?«
    »Sieh sie dir an«, verlangte Lena.
    Diesmal starrte er sie noch länger an, hob schließlich trotzig die Schultern und blickte auf das kleine Display: lange. Wirklich sehr lange.
    »Er ist nicht kaputt«, sagte Lena, nachdem sie beinahe eine
Minute lang abgewartet hatte, eine Minute, in der er schweigend auf das Display gestarrt hatte und immer blasser geworden war, »auch wenn du dir das jetzt noch so gern einreden würdest. Mach eine Probeaufnahme von dir, wenn du es nicht glaubst.«
    Sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn er die Kamera herumdrehte und ihr ein Bild zeigte, auf dem sie deutlich zu erkennen war. Vielleicht würde sie dann den Unterschied zwischen Jugendknast und forensischer Psychiatrie am eigenen Leib erfahren und herausfinden, was schlimmer war. Fast wünschte sie es sich.
    Stattdessen legte er die Kamera aus der Hand und starrte sie aus Augen an, in

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