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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Beispiel?«
    Mit der Geduld einer Mutter, die mit ihrem störrischen Kind sprach, überging Louise auch das. »Ich wollte mich nicht über dich lustig machen, Lena«, sagte sie. »Was ich über Tom gesagt
habe, tut mir wirklich leid. Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an. Es war nicht so gemeint.«
    »Doch«, antwortete Lena. »War es.«
    »Nicht so, wie es für dich geklungen haben muss«, sagte Louise. »Du liebst diesen Jungen, und ich hatte kein Recht, mich darüber lustig zu machen.«
    »Liebe!« So, wie Lena das Wort hervorstieß, klang es fast wie ein Fluch. »Was verstehst du schon davon?«
    Jetzt wirkte Louise doch ein bisschen verletzt. »Wahrscheinlich mehr als du«, sagte sie. »Ich habe es oft genug erlebt, um zu wissen, was sie anrichten kann. Sie ist vielleicht das Schönste, was uns passieren kann, aber auch das Schlimmste. Und für deinen kleinen Freund wäre es das Schlimmste.« Sie verbesserte sich. »Für Tom.«
    »Weil er das bekommen würde, was eigentlich dir zusteht?«, fragte Lena böse.
    »Weil er es nicht überleben würde«, antwortete Louise ernst. »Denk an Nora und ihren kleinen Pagen. Möchtest du eines Morgens aufwachen und seine Leiche neben dir finden?«
    »Das ist ja wohl etwas anderes!«, protestierte Lena.
    »Wieso?«, fragte Louise. Sie zündete sich eine weitere Haschisch-Zigarette an und hielt Lena das silberne Etui hin, die aber den Kopf schüttelte. »Sie hat diesen Jungen nämlich auch geliebt. Ihm etwas anzutun war das Letzte, was sie wollte. Aber sie hat es trotzdem getan.«
    »Ich bin nicht Nora«, sagte Lena.
    »Aber du bist, was du bist, und das ist nun einmal unsere Art«, erwiderte Louise traurig. »Du musst allmählich anfangen, das zu begreifen.«
    »Ich muss gar nichts!«, fauchte Lena. »Ich habe dich nicht gebeten, mich in … so etwas zu verwandeln!«
    »Mit so etwas meinst du dich selbst.« Lena war sich nicht ganz sicher, ob Louise nun doch verärgert klang oder nur auf
eine andere Art traurig. »Es tut mir so unendlich leid, glaub mir. Das alles … ist nicht so gelaufen, wie es sollte.«
    »Weil ich meinen freien Willen behalten habe?«
    »Ich habe ihn dir gelassen, Kleines«, korrigierte Louise sie. »Und es war nicht so geplant, glaube mir. Du hast bisher nur all die negativen Seiten deines neuen Lebens kennengelernt.«
    »Gibt es denn auch positive?«
    »Du hast alles gesehen, was du nicht mehr haben kannst«, fuhr Louise unbeirrt fort. »Das Leben verschenkt nichts, Lena. An niemanden. Nicht einmal an uns. Du bekommst nichts, ohne dass dir dafür nicht auch etwas genommen wird. Du wirst nie wieder einfach so im Sonnenschein spazieren gehen können. Du wirst dich nie wieder einfach so in einen Jungen - oder auch in ein Mädchen - verlieben können. Und da sind auch noch ein paar andere Dinge, die du nicht mehr tun kannst … aber du bekommst auch so unendlich viel dafür zurück.«
    »Zum Beispiel?«
    »Gib diesem Leben eine Chance. Du hast es von seiner schlimmsten Seite kennengelernt, aber so ist es nicht immer.«
    »Nur jede zweite Woche?«
    »Heute Nacht sind wir hier weg«, sagte Louise unerschütterlich. »Und dann wird alles anders. Ich verlange nicht einmal, dass du mir glaubst. Gib mir einfach eine Chance.«
    »So wie du Stepan?«
    Das kurze Schweigen, das auf diese Worte hin einkehrte, war beredt genug. Louise hatte nicht geahnt, dass Lena um ihr finsteres Geheimnis wusste. Vielleicht hatte sie auch nicht gewusst, dass Charlotte davon wusste. Aber sie fing sich sofort wieder. »Er war nicht immer so«, sagte sie. »Wahrscheinlich glaubst du mir nicht, aber als ich ihn kennengelernt habe, da war er ein bisschen so wie dein kleiner Freund.«
    »Du hast recht«, sagte Lena. »Ich glaube dir nicht.«

    »Und doch ist es die Wahrheit«, sagte Louise. »Und ich glaube auch nicht, dass es Zufall ist. So wenig wie es Zufall ist, dass ich mich in dich verliebt habe.«
    »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«
    »Alles«, erwiderte Louise. »Wir sind uns sehr ähnlich, Kleines. Ähnlicher, als du ahnst.«
    »Ja, klar doch«, sagte Lena abfällig.
    »Vor sehr langer Zeit, da war ich genau wie du. Es ist uns nicht vergönnt, in den Spiegel zu sehen oder ein Bild von uns zu machen, und deshalb weiß ich nicht, wie ich aussehe …«
    »Alt«, fauchte Lena aus keinem anderen Grund als dem, ihr wehzutun.
    »… aber damals wären wir uns sogar äußerlich ähnlich gewesen. Ich habe so ausgesehen wie du, ich war genauso aufsässig wie du, und

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