Wir sind die Nacht
dem ersten Wort abermals, aber jetzt in fast sanftem Ton. »Lass deinen Zorn ruhig an mir aus, wenn es dich erleichtert.«
»Das wollte ich nicht«, sagte Lena.
»Doch, das wolltest du, und es ist in Ordnung. Manchmal braucht man jemanden, dem man die Schuld geben kann. Das macht es leichter, es zu ertragen.«
»Quatsch«, sagte Lena.
»Kein Quatsch.« Charlotte schüttelte heftig den Kopf. »Ich beobachte die Menschen seit hundert Jahren. Das ist eine lange Zeit. Lange genug, um sie kennenzulernen.«
»Das klingt nicht so, als würdest du sie auch mögen.«
»Wer weiß?« Charlotte hob abermals die Schultern, aber dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Aber bevor wir jetzt endgültig ins Philosophieren geraten, hören wir lieber auf Louises Rat und versuchen ein bisschen zu schlafen. Wir haben eine anstrengende Reise vor uns, und ich muss vorher noch … etwas erledigen.«
Das winzige Zögern in ihren Worten entging Lena keineswegs. Und es war auch nicht das erste Mal, dass sie das sichere Gefühl hatte, dass da noch mehr war, was Charlotte ihr sagen wollte.
»Hör auf Louise, und leg dich hin«, sagte Charlotte. »Hier gibt es nichts für dich zu tun, glaub mir.« Sie lächelte flüchtig. »Und auch nichts zu fürchten.«
»Ich bin nicht müde«, sagte Lena.
»Doch«, antwortete Charlotte. Irgendetwas in ihrem Blick änderte sich. »Bist du.«
Und natürlich war sie es. Ganz plötzlich und so sehr, dass sie es gerade noch schaffte, zur Couch zu taumeln, bevor ihr die Augen zufielen.
32
Draußen musste es ungefähr Mittag sein, und das Erste, was ihr auffiel, war ein unangenehmer Geruch, der sie umgab und in jede Pore ihres Körpers eindrang.
Und dann das Gefühl, angestarrt zu werden.
»Du kannst die Augen jetzt aufmachen«, sagte Louise. »Ich weiß, dass du wach bist.«
Lena gehorchte. »Woher?«, fragte sie.
Louise, die mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel saß und sie wie jemand betrachtete, der es sich vor dem Fernseher gemütlich machen wollte, zog an ihrer Zigarette und deutete ein Schulterzucken an. »Veränderte Körpertemperatur, weniger flacher Atem, eine schnellere Herzfrequenz und keine unbewussten Muskelzuckungen mehr«, sagte sie und blies eine süßliche Qualmwolke in ihre Richtung, die eindeutig nicht nur aus Zigarettenrauch bestand. »Das wäre jedenfalls die wissenschaftliche Erklärung.«
»Und die andere?« Lena setzte sich auf und bemühte sich, nicht zu gähnen. Sie lauschte in sich hinein und stellte fest, dass sie weder Albträume gehabt hatte noch von weiteren Angstattacken heimgesucht worden war. Sie hatte richtig fest geschlafen. Möglicherweise weil Charlotte nachgeholfen hatte.
Louise lächelte, als hätte sie etwas gesagt, worüber sie sich insgeheim freute. »Ich habe es einfach gewusst«, sagte sie. »So wie du gewusst hast, dass ich dich beobachte.«
Lena machte sich gar nicht erst die Mühe zu widersprechen. »Und warum?«
»Warum ich dich beobachte?« Louise nahm einen tiefen Zug an ihrem Joint. »Weil mir dein Anblick Freude bereitet.«
»Hm«, machte Lena. Sie schwang umständlich die Beine von der Couch, verbarg das Gesicht in den Händen und gähnte ausgiebig. Schließlich sah sie Louise wieder direkt in die Augen.
»Du bist wirklich süß, wenn du schläfst«, sagte Louise. »Aber das habe ich dir schon einmal gesagt, glaube ich.«
»Gib dir keine Mühe«, murmelte Lena. »Schmeicheleien haben bei mir noch nie funktioniert.«
»Erstens war es keine Schmeichelei.« Louise schnippte ihre Zigarette zielsicher in den Kamin, ohne hinzusehen. »Und zweitens stimmt es nicht. Jeder ist für Schmeicheleien empfänglich. Vor allem wenn er weiß, dass sie der Wahrheit entsprechen.«
»Wo ist Charlotte?«, fragte Lena unvermittelt.
»Sie hat etwas zu erledigen«, antwortete Louise.
»Der Grund, aus dem wie hier sind?«
Louise nickte zwar, machte aber keine Anstalten, die eigentliche Frage zu beantworten. »Es trifft sich ganz gut, dass wir allein sind«, sagte sie. »Ich wollte ohnehin mit dir reden.«
»Weil du Geheimnisse vor Charlotte hast?« Diesmal klang ihre Stimme noch schärfer, aber Louise reagierte auch jetzt nicht darauf, und Lena wurde klar, dass sie sich die Mühe genauso gut sparen konnte. »Und worüber willst du reden?«, fragte sie schließlich.
»Über gestern«, antwortete Louise. »Ich habe da ein paar Dinge gesagt, die ich besser nicht gesagt hätte.«
Nein, so einfach würde sie es ihr nicht machen. »Und was, zum
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