Wir sind die Nacht
gefüllte Plastikbeutel auf einem Bett aus Trockeneis zu erblicken.
»Reiseproviant?«, sagte sie.
»Stepans Fahrer war nicht besonders ergiebig«, sagte Louise,
während sie einen der Beutel herausnahm, den Verschluss öffnete und die drei Gläser mit der Leben spendenden Flüssigkeit füllte. Lenas Magen knurrte hörbar. Sie musste sich beherrschen, um das Glas von Louise entgegenzunehmen, statt es ihr einfach aus den Händen zu reißen.
»Wir hätten die beiden anderen ja als kleine Snacks für zwischendurch mitgenommen, aber Charlotte war vielleicht ein bisschen übereifrig … Und wenn ich ehrlich sein soll, bin ich auch fast erleichtert. Allmählich kann ich nichts Russisches mehr sehen oder gar schmecken. Es war schon schlimm genug, dass ich die ganze Strecke dieses grässliche Balalaika-Gesülze hören musste.«
Sie leerte ihr Glas auf einen Zug und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Kannst du dir das vorstellen? Der Kerl hat genug Geld, um die meisten afrikanischen Staaten kaufen zu können, und in seinem Wagen war nur eine einzige CD!«
»Warum hast du nicht einfach das Radio eingeschaltet?«, fragte Lena.
»Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin.« Louise verzog die Lippen, schenkte sich nach und tat dasselbe mit Lenas Glas, als sie es ihr hinhielt. Die wenigen Schlucke schienen ihren Hunger erst richtig angestachelt zu haben, statt ihn zu stillen.
Louise wartete, bis sie ausgetrunken hatten, dann sammelte sie die Gläser ein, trug sie ins Bad und begann sie pedantisch auszuspülen. Sorgsam verstaute sie sie wieder in der als Truhe getarnten Bar, klappte den Deckel zu und verschloss dann auch die Aluminiumkiste. Lena fiel erst jetzt auf, dass sie mit einem Zahlenschloss gesichert war.
»Es gibt nichts Neugierigeres als Putzfrauen«, sagte Louise, als sie sich wieder aufrichtete.
»Und ich dachte, Zimmermädchen.«
»Ja, die auch«, erwiderte Louise. »Stehen wahrscheinlich nebeneinander
auf dem Siegertreppchen. Jedenfalls würden sie sich ziemlich wundern, wenn sie unsere Sachen durchwühlen und Koffer voller Blutkonserven finden, meinst du nicht auch?«
Statt auf diese überflüssige Frage eine genauso überflüssige Antwort zu geben, trat Lena an eines der großen Fenster und hielt vorsichtig die Hand in den schmalen Streifen aus goldenem Morgenlicht, das durch das getönte Glas fiel. Nichts geschah.
»Keine Sorge«, sagte Louise in leicht spöttischem Ton. »Das Glas ist UV-beständig. Hat mich damals ein mittleres Vermögen gekostet, es extra importieren zu lassen. Vor zwanzig Jahren war es in diesem ganzen Land nicht zu bekommen.«
»Zwanzig Jahre?«
»Vielleicht sind es auch schon fünfundzwanzig«, antwortete Louise. »Gewöhn dich daran, langfristig zu planen.«
Lena trat vollends an die Scheibe heran, um hinauszublicken. Sie mussten sich in einem der Türme befinden, denn ihr Blick reichte ungehindert über den gesamten Park, die Mauer, die tatsächlich das gesamte Gelände zu umschließen schien, und auch noch den Wald dahinter. Kleine Baumgruppen, die viel zu malerisch arrangiert waren, um natürlich entstanden zu sein, lockerten die ausgedehnte Rasenfläche ebenso auf wie sorgsam angelegte Blumenrabatten und ein kleiner, diskret eingezäunter See.
»Was ist das hier?«, fragte sie. »So eine Art … Sanatorium?« Sie dachte an das, was Louise gerade unten in der Garage gesagt hatte.
»Ein Altersheim«, sagte Charlotte.
»Eine Residenz«, verbesserte sie Louise.
»Und das ist ein Unterschied?«
»Nur im Preis«, sagte Charlotte. »Das dafür aber gewaltig.«
»Und wie gewaltig«, seufzte Louise, sah sich noch einmal mit leidender Miene um und wechselte dann das Thema. »Und
jetzt würde ich vorschlagen, dass wir uns ein paar Stunden Ruhe gönnen. Es war eine anstrengende Nacht, und die nächste wird vermutlich genauso anstrengend - wenn auch hoffentlich etwas weniger aufregend.«
»Warum hast du ihn nicht getötet?«, fragte Lena.
»Wen?«, erwiderte Louise.
Als ob sie das nicht wüsste. »Stepan«, antwortete Lena ärgerlich. »Er wird ganz bestimmt nach uns suchen.«
»Sobald er alle seine Knochen wiedergefunden und in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt hat, ja«, sagte Louise. »Aber bis dahin sind wir schon auf einem anderen Kontinent. Die Karibik wird dir gefallen. Irgendwann wird sie einfach langweilig, aber für ein paar Jahrzehnte hält man es ganz gut dort aus.«
»Warum hast du ihn nicht getötet?«, beharrte Lena. Das hätte Louise
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