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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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bin. Nach allem, was ich ihr angetan habe, war das das Mindeste, was ich ihr schuldig war. Jetzt kann es endlich aufhören.«
    Lena wankte leicht. »Das … tut mir aufrichtig leid, Charlotte«, brachte sie mühsam heraus. »Aber ich … ich bin so … so hungrig. Der Koffer.«
    Charlotte drehte sich vollends zu ihr herum, sah sie nachdenklich an und nahm ihr dann das Messer aus der Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog sie die Messerklinge langsam über ihr Handgelenk, so dass das Blut nur so hervorsprudelte, und hielt Lena den Arm hin.
    »Trink«, sagte sie.
    Lena stürzte sich auf sie, presste die Lippen auf ihr Handgelenk
und trank die kostbare rote Flüssigkeit mit gierigen Schlucken. Sie spürte, wie die Wunde sich zu schließen begann, zog sie mit den Fingerspitzen auseinander und trank immer weiter und weiter. Schon der erste Schluck besänftigte den entsetzlichen Hunger in ihren Eingeweiden. Der zweite ließ ihn endgültig verschwinden, und mit jedem weiteren strömte mehr Kraft in ihren ausgehungerten Körper. Charlotte versuchte sie wegzuschieben, aber Lena schlug ihre Hand einfach zur Seite und trank und schluckte und schlang nur umso gieriger weiter. Schließlich schlug Charlotte ihr den Handrücken so fest ins Gesicht, dass sie gegen den Türrahmen stolperte und sich gerade noch festhalten konnte, um nicht rücklings die Treppe hinunterzufallen.
    Rasende Wut loderte in ihr hoch, erlosch aber wieder, als sie Charlotte sah, und ihr schlechtes Gewissen sprang sie wie ein Raubtier an.
    Charlotte schwankte. Ihr Gesicht war nicht mehr weiß, sondern grau. Sie hatte den verletzten Arm gegen die Brust gepresst und mit der anderen Hand umklammert. Zwischen ihren Fingern quoll noch immer Blut hervor.
    »O mein Gott«, flüsterte Lena. »Das … das tut mir leid! Das wollte ich nicht! Bitte, das musst du mir glauben!«
    Charlotte schüttelte nur den Kopf. Sie wich ein paar Schritte zurück und damit weiter auf das tödliche Dreieck aus goldfarbenem Sonnenlicht zu. »Das Aufhören ist das Schwerste«, sagte sie sanft. »Du musst es wirklich lernen. Ich weiß, wie schwer es ist, aber es ist der einzige Weg.«
    »Ich habe zu viel genommen«, sagte Lena erschrocken. »Mein Gott, ich … ich hätte dich umbringen können!«
    »Nur, wenn ich es zugelassen hätte«, antwortete Charlotte, und wie um ihre Worte Lügen zu strafen, wankte sie so stark, dass sie zu stürzen drohte. Lena wollte hinzuspringen, aber wieder wehrte Charlotte mit einem Kopfschütteln ab. »Es ist alles
gut«, sagte sie und stolperte einen Schritt nach hinten. »Ich … wollte es so. Das verschafft dir Zeit.«
    »Zeit?«, wiederholte Lena verständnislos. »Wozu?«
    Charlotte wollte antworten, legte aber stattdessen nur den Kopf auf die Seite und lauschte. »Sie ist auf dem Weg«, sagte sie. »Keine Zeit mehr für Fragen. Hör mir zu, Lena. Noch ist es nicht zu spät. Noch hast du kein Leben genommen.«
    Lena verstand nichts mehr. »Du meinst, ich … ich kann noch … zurück?«, stammelte sie. Wieder ein Mensch werden? Aus diesem Albtraum erwachen? Sollte das möglich sein?
    Charlotte schüttelte den Kopf und sah auf unbestimmte Weise traurig aus. »Nein«, sagte sie. »Das ist leider nicht möglich. Aber du musst nicht so werden wie ich oder Louise. Es war Nora, verstehst du?«
    Lena schüttelte den Kopf. Vielleicht verstand sie tief im Innersten, was Charlotte meinte, aber sie gestattete dem Gedanken nicht, endgültig Gestalt anzunehmen.
    Charlotte streckte ihr den Arm entgegen. Der Schnitt war nahezu verschwunden. »Das hier ist das wahre Geheimnis«, sagte sie. »Louise hat es dir nie verraten, so wenig wie Nora oder mir, aber ich habe es herausgefunden. Frag mich nicht, wie, dazu ist keine Zeit mehr. Du darfst es ihr nicht sagen. Sie darf nie erfahren, dass du es weißt. Sie würde dich töten.«
    »Dass ich was weiß?«
    »Wir müssen nicht morden, um am Leben zu bleiben«, sagte Charlotte. Wieder wirkte sie angespannt, und nun glaubte auch Lena, etwas zu hören. Etwas kam näher. Etwas Böses.
    »Wir können uns aneinander nähren«, fuhr Charlotte fort. Sie sprach jetzt schnell, fast schon gehetzt. »Das Blut von Tieren oder einer Blutkonserve hält uns am Leben, mehr aber auch nicht. Das hier …« Sie wedelte mit dem Arm. »… gibt uns das, was wir wirklich brauchen. Wir müssen keine Menschen töten. Aber wenn du es einmal getan hast, dann gibt es kein Zurück mehr.«
    Lena war sich nicht sicher, ob sie das wirklich verstand. Es

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