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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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verzichtete. Mit einem zornigen Ruck warf sie den Kopf in den Nacken und eilte zum Lift.

34
    In einer Stunde würde die Sonne untergehen, aber Lena bezweifelte, dass sie noch so lange durchhielt.
    Ihr Hunger war zur Qual geworden. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an die rasende Gier in ihrem Inneren, die wie mit glühenden Krallen in ihren Eingeweiden wühlte. Sie hatte nicht gewusst, dass Hunger so wehtun konnte. Er marterte nicht nur ihren Körper, sondern beherrschte ihr gesamtes Denken.
    Seit einer guten Stunde stand sie jetzt hier am Fenster und blickte auf den Park hinab, aber sie sah nicht die gepflegte Grünanlage, sondern nur die Gestalten, die sich dort unten bewegten. Beute. Sie sah keine Pfleger oder Krankenschwestern oder Patienten, sondern nur Nahrung, schlagende Herzen und pulsierendes Blut, das sie brauchte . Alles in ihr schrie danach, nach draußen zu rennen und sich auf die erstbeste Beute zu stürzen. Vielleicht war es nur noch der gleißende Schutzschirm der Sonne, der einem dieser ahnungslosen Menschen dort draußen das Leben rettete.
    Zum ungefähr zwanzigsten Mal trat sie vom Fenster zurück und an die beiden großen Aluminiumkoffer, die Louise neben dem Kamin abgestellt hatte. Mit aller Kraft zerrte sie an dem komplizierten Vorhängeschloss, ohne ihm auch nur ein verächtliches Knirschen entlocken zu können.
    Sie stand wieder auf, versetzte dem Koffer einen frustrierten
Tritt und ging dann in die angrenzende Küche, um etwas zu suchen, was sie als Hebel benutzen konnte. Alles, was sie fand, war ein Messer mit einer langen Klinge, die wahrscheinlich abbrechen würde. Aber wenn das geschah, konnte sie immer noch mit dem Aufzug in die Werkstatt hinunterfahren und mit einem Brecheisen oder etwas Ähnlichem zurückkommen. Louise würde nicht begeistert sein, aber das war ihr herzlich egal.
    Die Lifttür summte, und Lena hielt inne, bevor sie die Küche mit dem Messer in der Hand wieder verließ. Sollte sich Louise doch denken, was sie wollte!
    Es war nicht Louise, die zurückgekommen war, sondern Charlotte, die mit leerem Blick an ihr vorbeiging und in einem der angrenzenden Zimmer verschwand. Sie schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Lena warf einen enttäuschten Blick auf den verschlossenen Koffer, dann folgte sie ihr.
    Charlotte war nicht im Nebenzimmer. Auf der anderen Seite stand eine Tür offen, und dahinter führte eine schmale Metalltreppe zu einer Metalltür hinauf, hinter der helles Tageslicht drohte, aber kein direkter Sonnenschein; vermutlich die Dachterrasse, von der Louise erzählt hatte. Lena musste all ihren Mut zusammennehmen, um hinauszutreten.
    Die Dachterrasse war unerwartet groß und von einem brusthohen Geländer aus verschnörkeltem weißem Schmiedeeisen umgeben. Sie lag im letzten Licht des erlöschenden Tages da, aber es gab nur noch einen kleinen dreieckigen Bereich am anderen Ende, der von tödlichen Sonnenstrahlen beschienen wurde. Charlotte war ein gutes Stück davor stehen geblieben und blickte die golden schimmernde Todeszone aus weit aufgerissenen Augen an. Sie blinzelte nicht.
    Da war noch ein winziger Rest von vernünftigem Denken in Lenas Kopf, der ihr klarzumachen versuchte, dass sie kein Recht dazu hatte - nicht in diesem Moment -, aber sie konnte einfach nicht anders. »Der Koffer«, stammelte sie. »Charlotte,
bitte, Louise hat den Schlüssel mitgenommen, und ich … halte es nicht mehr aus.«
    Sie war überzeugt davon, keine Antwort zu bekommen, so starr und entrückt, wie Charlotte dastand und ins Leere starrte. Aber dann drehte sie sich doch zu ihr um, und zumindest ein Hauch von Leben kehrte in ihre Augen zurück.
    »Mama«, sagte sie.
    »Charlotte, bitte!«, flehte Lena. »Ich … ich brauche etwas! Ich sterbe vor Hunger!« In ihr loderte und fraß ein Feuer, das sie von innen heraus zu verzehren begann.
    »Mama«, sagte Charlotte noch einmal. »Sie ist noch einmal wach geworden, und sie hat die Augen aufgemacht und mich angelächelt, und dann hat sie mich Mama genannt. Sie hat mich erkannt. Als wäre gar keine Zeit vergangen.«
    Endlich begriff Lena, und der Gedanke war so schrecklich, dass er kurzfristig selbst den quälenden Hunger überwand. »Sie ist … tot?«, murmelte sie. »Deine Tochter ist gestorben?«
    »Sie hat mich erkannt«, antwortete Charlotte, und obwohl nun Tränen über ihr Gesicht liefen, konnte sich Lena nicht erinnern, sie jemals so glücklich gesehen zu haben. »Es war richtig, dass ich noch einmal hergekommen

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