Wir sind die Nacht
konnte nicht sein. Bei allem Schlechten und Niederträchtigen, das sie Louise zubilligte, konnte ihre Lüge doch nicht so monströs gewesen sein, oder?
»Gestern Abend, auf der Polizeiwache«, murmelte sie. »Warst du das?«
Charlotte beantwortete ihre Frage nicht, aber sie sah sie eine halbe Sekunde lang verständnislos an, so dass das auch nicht nötig war. Außerdem hatte sie ja gesehen, wie Charlotte auf der anderen Seite des Gebäudes aus dem Wagen gestiegen war.
»Du musst nicht so werden wie wir«, sagte Charlotte noch einmal. Ein Stockwerk unter ihnen öffnete sich summend die Lifttür, und schnelle Schritte näherten sich. Lena konnte Louises nahende Präsenz fühlen.
»Ich glaube, wir waren nie so gemacht«, fuhr Charlotte fort. »Die Natur kennt nämlich keine Grausamkeit. Lass nicht zu, dass sie dich zu etwas macht, was nicht sein darf. Lass nicht zu, dass sie dir dasselbe antut wie mir.«
»Lena? Charlotte? Seid ihr dort oben?« Louise polterte die Metalltreppe herauf. »Was zum Teufel macht ihr da?«
Charlotte sah Lena noch eine schier endlose Sekunde lang aus Augen an, in denen eine große Trauer, aber auch ein sonderbarer Ausdruck der Erleichterung zu lesen war, Augen, deren Besitzerin etwas abgeschlossen hatte. Und im selben Moment, in dem Louise hinter Lena erschien, fuhr Charlotte herum, verwandelte sich in einen rasenden Schatten und packte Lena, um sie mit aller Gewalt gegen Louise zu schleudern.
Nicht einmal deren gewaltige Kraft reichte, um den Sturz aufzuhalten. Aneinandergeklammert und zu einem wirren Knäuel aus Gliedmaßen verstrickt, kugelten sie kopfüber die steile Metalltreppe hinab, und Lena konnte hören, wie irgendetwas in Louises Körper zerbrach, als sie mit grässlicher Wucht auf ihr landete. Ein dünner Schmerzensschrei entrang sich
Louises Lippen, und beide blieben zunächst benommen liegen. Dann überwand Louise ihren Schrecken, schleuderte Lena von sich herunter und machte einen Satz zur Treppe.
Lena sah jetzt, was sie gerade nur gehört hatte. Louises gebrochenes Bein gab unter ihrem Gewicht nach, und sie fiel der Länge nach auf die eisernen Stufen.
Sie stemmte sich wieder hoch und starrte ihr Bein an, als wollte sie den gebrochenen Knochen mit purer Willenskraft wieder zusammenfügen. Und vielleicht tat sie das auch.
Es spielte keine Rolle mehr. Charlotte hatte alle Zeit, die sie brauchte. Sie erschien unter der offenen Tür am oberen Ende der Treppe und streckte die Hand nach der Klinke aus. Ihr Körper war gegen den hellgrauen Hintergrund der Dämmerung ein flacher schwarzer Schatten. Das Gesicht war nicht zu erkennen, und dennoch spürte Lena, dass sie es war, die Charlotte ansah, nicht Louise, und sie spürte auch die Trauer in ihrem Blick, die auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise noch größer geworden war, aber auch … versöhnlich.
»Charlotte!«, schrie Louise. »Tu das nicht! Ich verbiete es!«
Charlotte zog die Tür hinter sich zu. Ein rostiges Scharren erklang, dann prallte Louise mit solcher Wucht gegen die Tür, dass die gesamte Treppe zitterte und sie abermals hinuntergeschleudert wurde. Unverzüglich federte sie wieder hoch, raste auf allen vieren die Treppe hinauf und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Dann beging sie den Fehler, mit beiden Händen daran zu ziehen. Das rostige Metall gab mit einem trockenen Knacken nach. Einen kurzen Moment lang kämpfte sie mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, dann schleuderte sie den abgebrochenen Türgriff gegen die Wand und warf sich mit aller Gewalt gegen die Tür. »Charlotte!«, brüllte sie. »Nein! Ich verbiete es!«
Mit womöglich noch größerer Kraft rammte sie nun die Schulter gegen die Tür und begann dann mit beiden Fäusten gegen das zerschrammte Metall zu schlagen. Mit ihren verzweifelten
Fausthieben schlug sie knöcheltiefe Dellen und Schrammen in die Tür, und sie verletzte sich, bis das Blut spritzte, aber sie hielt ihrer rasenden Wut dennoch stand.
»Verdammt noch mal, hilf mir!«, schrie sie. »Lena! Siehst du denn nicht, was sie tut?« Sie schlug weiter gegen die Tür, und ihr Blut lief nun in Strömen an dem rostigen Metall herab. Etwas Licht fiel in grauen Bahnen durch die entstandenen Ritzen und Risse, und dazwischen war jetzt ein unheimliches goldfarbenes Zucken zu erkennen.
Hastig stolperte Lena die Stufen hinauf.
»Hilf mir!«, keuchte Louise. »Verdammt noch mal, hilf mir! Sie bringt sich um!«
Nein, dachte Lena. Sie hat sich befreit. Trotzdem nahm sie
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