Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
Vom Netzwerk:
all ihre Kraft zusammen und rammte die Schulter gegen die Tür, die dabei hörbar knirschte. Nach einigen Versuchen gab eine der massiven Angeln mit einem peitschenden Knall nach. Der Bolzen sprang heraus und grub sich wie ein bizarres Armbrustgeschoss in die Wand unmittelbar neben Lenas Schulter.
    Louise sprengte die Tür mit einem Schlag vollends aus den Angeln und stürzte hinaus. Lena folgte ihr dichtauf, aber sie kamen beide zu spät.
    Charlotte stand auf der anderen Seite der Terrasse, fast genau im Zentrum des tödlichen goldenen Dreiecks. Sie brannte. Was noch von ihr übrig war, das stand absurd weit nach hinten gebeugt da, eine verschrumpelte schwarze Salzsäule, wie Lots Weib am Ufer des Toten Meeres, nachdem es sich allen Warnungen zum Trotz herumgedreht hatte, um in das Antlitz des Zornes Gottes zu schauen. Sie hatte beide Handflächen hoch erhoben der Sonne zugewandt, aber es war nichts Abwehrendes an dieser Geste, eher das Gegenteil: als würde sie den Tod, der sie umfing, willkommen heißen.
    Louise schrie so gellend auf, als wäre sie es, die das lodernde Sonnenlicht bei lebendigem Leib verzehrte. Sie raste los und
packte Charlottes brennende Gestalt bei den Schultern, um sie aus der Säule aus tötender Helligkeit herauszuzerren, aber Charlotte schleuderte sie nur mit einem so gewaltigen Hieb zu Boden, dass sie meterweit davonrollte. Louises Hände und Unterarme brannten, und sie zog eine Spur aus Funken und brennenden Stoff- und Fleischfetzen hinter sich her.
    Charlotte begann zu schreien. Ihr Körper barst, während er sich in der höllischen Hitze der Flammen krümmte, und ein Spinnennetz aus dünnen, zuckenden gelben Linien erschien darauf, aus dem Tausende und Abertausende orangefarbener und goldener Funken quollen, Millionen schließlich, die sich in einer immer schneller und schneller rotierenden Spirale um sie herum und zugleich der Sonne entgegendrehten.
    Dann explodierte sie.
    Es geschah vollkommen lautlos, und es war in weniger als einer Sekunde vorbei, und es war zugleich das Schrecklichste wie auch das Schönste, was Lena jemals gesehen hatte. Alles Schwarze an Charlotte wurde zu Licht. Wo sie gerade noch gestanden hatte, loderte für den Bruchteil einer Sekunde das weiße Herz einer neugeborenen, jungfräulichen Sonne, tausendmal heller als alles Gesehene und dennoch so sanft, dass Lenas Augen keinen Schaden nahmen. Es erklang ein Laut, der ein entsetzlicher Schrei sein mochte, ebenso gut aber auch das Jubilieren einer gefangenen Seele, die nach ewiger Verdammnis endlich erlöst wurde.
    Dann war Stille.
    Das lautlose Feuerwerk erlosch, die Flammen waren fort, und nur noch ein wenig grauer Staub hing für einen Moment in der Luft, um dann lautlos zu Boden zu rieseln.

35
    Louise goss das Glas zum dritten Mal randvoll und kippte auch diesen fünffachen Cognac in einem einzigen Zug hinunter, ohne dass das Zittern ihrer Hände damit schwächer wurde. Sie hielt eine brennende Zigarette in der Hand, eine zweite, die sie längst vergessen hatte, qualmte in einem gläsernen Aschenbecher vor sich hin. Ihr Gesicht war so aschfahl und grau wie das Charlottes zuvor, als sie sich zu ihr herumdrehte und den Hinterkopf mit halb geschlossenen Augen gegen den Kaminsims lehnte.
    »Warum hat sie das getan?«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, warum hat sie das getan? Warum ist sie nicht zu mir gekommen? Ich hätte ihr doch geholfen, ganz egal, welches Problem sie auch hat!«
    »Vielleicht war das ja genau der Grund, aus dem sie nicht zu dir gekommen ist.«
    Louises Augen blitzten wie zwei rasiermesserscharf geschliffene Steine. »Was soll das heißen?«
    Lena antwortete nicht gleich, bedauerte dafür aber umso mehr, die Worte überhaupt gesagt zu haben. Sie sollte gar nicht mit Louise reden. Trotzig presste sie die Lippen aufeinander und fragte sich, warum sie sich nicht einfach auf sie stürzte und dieser Farce ein Ende bereitete.
    Natürlich wusste sie, dass das Selbstmord gewesen wäre. Louise war ungleich stärker als sie und vermutlich in keiner
sehr duldsamen Stimmung. Und wenn Lena es genau nahm, dann galt ihr Zorn nicht einmal wirklich Louise, sondern … allem eben . Sie hatte das völlig irrationale Gefühl, dass das, was Charlotte zugestoßen war, ihre Schuld war.
    Vielleicht war es Charlottes Blut, dessen Stimme in ihr flüsterte. Da war noch ein Teil von Charlotte in ihr; möglicherweise etwas wie ein … Erbe. Und dieser Teil schrie nach Rache.
    »Also?«, fauchte Louise.
    Das Telefon

Weitere Kostenlose Bücher