Wir sind die Nacht
alles.«
Seltsam - hätte Lena nicht gewusst, wie völlig absurd das war, dann hätte sie geschworen, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen.
»Keine Angst. Ich werde ihm nichts tun. Ich weiß, dass es ein Fehler ist, aber ich verspreche dir, ihn leben zu lassen.«
»Das … würdest du wirklich tun?«, sagte Lena mit klopfendem Herzen.
»Ach, du Dummkopf«, sagte Louise lächelnd. »Weißt du denn immer noch nicht, dass ich alles für dich tun würde?« Sie sah auf den bewusstlosen Tom hinab. »Aber er könnte zu einem Problem werden.«
Also doch, dachte Lena bitter. Es war nur ein weiteres grausames Spiel gewesen, um sie zu quälen.
»Ich könnte seine Erinnerungen auslöschen«, fuhr Louise fort.
Lena starrte sie aus aufgerissenen Augen an. »So etwas … kannst du?«
»Er würde sich nicht einmal daran erinnern, dass es dich überhaupt gibt«, sagte Louise. Sie ging an Lena vorbei, ließ sich in den Sessel fallen und zündete sich eine neue Zigarette an. »Das Problem dabei ist nur, dass du es gar nicht willst.«
»Aber ich …«
»Schon gut.« Louise unterbrach sie mit einem sanften Kopfschütteln und lächelte sonderbar traurig. »Du bist eine ganz schlechte Lügnerin, Kleines - aber genau das ist einer der Gründe, aus denen ich dich so liebe. Mein ganzes Leben hat bisher aus kaum mehr als einer Aneinanderreihung von Lügen bestanden. Da tut es einfach gut, ein bisschen Ehrlichkeit kennenzulernen.«
Für die Dauer von zwei, drei schweren Herzschlägen stand sie einfach nur da und wartete darauf, dass Louise weitersprach. Als ihr klar wurde, dass das nicht geschehen würde, wandte sie sich um und ging zu Tom, um sich neben ihm auf die Knie sinken zu lassen.
Sein Gesicht bot einen erschreckenden Anblick. Das Blut lief ihm in Strömen aus einer fingerlangen Platzwunde an der Schläfe, und das kräftige Rot ließ seine Haut noch blasser aussehen, als sie ohnehin war. Lena tastete nach seinem Puls und stellte fest, wie schnell und kräftig sein Herz schlug. Es war ein sehr starkes, sehr junges Herz voller Leben, so wie auch Tom stark und jung und voller Leben war; und da war noch etwas, tief in ihm, selbst vor ihren übermenschlich scharfen Sinnen nahezu verborgen; etwas, das sie rief und lockte …
Erschrocken sah sie zu Louise hoch und begegnete ihrem Blick, der voller Trauer war, aber auch so sanft und mitfühlend wie nie zuvor. Was, wenn sie recht hatte und alles, was sie gesagt hatte, der Wahrheit entsprach? Bei allem Hass, den sie Nora gegenüber mittlerweile empfand, wusste sie trotzdem, dass ihre Gefühle dem jungen Hotelpagen gegenüber echt gewesen waren. Sie hatte den Jungen aufrichtig geliebt - zumindest soweit ein Wesen wie sie überhaupt in der Lage war, ein solches Gefühl zu empfinden -, aber das hatte Nora nicht daran gehindert, ihn zu töten und sein Blut zu trinken. Vielleicht war es genau so, wie Louise es gesagt hatte: Es war eben ihre Art.
Ein leises Scharren erklang. Lena sah nach links und erblickte Lummer, der sich stöhnend mit zusammengebissenen Zähnen auf einen Arm hochzustemmen versuchte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, aber das Trübe in seinem Blick war nicht nur Schmerz.
Sie beugte sich wieder über Tom, streichelte seine Stirn und tastete seinen Schädel dabei unauffällig nach Brüchen ab. Sie
hatte keinerlei Erfahrungen in so etwas, aber sie fühlte zumindest nichts Auffälliges. Aber da war wieder dieses warme, pulsierende … Etwas tief in ihm, ein Quell unendlicher Verlockung, kaum zu spüren und dennoch schier unwiderstehlich. Zwei, drei Sekunden lang genoss sie dieses Gefühl einfach, dann prallte sie fast entsetzt davor zurück, als sie spürte, wie sich auch in ihr etwas regte. Vielleicht die Gier. Vielleicht dasselbe, was Nora dazu gezwungen hatte, den Jungen im Hotel zu töten. Unbewusst glitt sie ein Stück weit von Tom weg.
»Du liebst ihn wirklich, stimmt’s?«, sagte Louise sanft.
»Nein!«, antwortete sie heftig. »Er ist nur ein Mensch! Was soll ich mit ihm? Zusehen, wie er neben mir alt wird und stirbt?«
»Und wenn das alles wäre, was du wirklich willst?«, fragte Louise und schüttelte den Kopf, als Lena antworten wollte. Sie zog wieder an ihrer Zigarette, und ihr Gesicht verschwand hinter einer Wolke aus süßlich riechendem Rauch. Lena sah trotzdem, dass ihre Augen feucht schimmerten, und die Hand, mit der Louise die Zigarette hielt, zitterte ganz leicht. »Du würdest dein eigenes Leben riskieren, um seines zu retten, habe
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