Wir sind die Nacht
wahrscheinlich schon seine und Lummers Herzschläge hören konnte.
Sie entschied sich dagegen, stieg aus, noch bevor der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war, und huschte zur Tür. Sie war verschlossen, genau wie sie es erwartet hatte. Lena lauschte, hörte nichts auf der anderen Seite und drückte die Klinke dann noch einmal mit etwas mehr Kraft hinunter. Der altersschwache Mechanismus des Schlosses gab nach und brach in Stücke.
Lautlos öffnete sie die Tür und betrat die Diele dahinter. Geräusche schlugen ihr entgegen, und der Alte-Leute-Geruch schien sie regelrecht anzuspringen und löste eine leise Übelkeit
bei ihr aus. Irgendwo dudelte russisch angehauchte Musik, und etwas quietschte, gleichmäßig und an den Nerven zerrend.
Sie öffnete eine weitere Tür, spähte durch den Spalt und schlüpfte dann hindurch. Irgendwo vor ihr musste der Aufzug sein, aber sie wusste nicht mehr, ob rechts oder links. Mit einem unguten Gefühl ging sie nach links und nahm sich vor, in Zukunft doch mehr auf ihre Gefühle zu hören, als sie sich unversehens einer weißhaarigen Frau gegenübersah, die ihr, auf einen altmodischen Gehstock gestützt, entgegengeschlurft kam. Lena konnte im ersten Moment nicht sagen, wer von ihnen erschrockener wirkte.
Zumindest im zweiten Anlauf war es die alte Frau, denn Lena reagierte auf eine Art, für die sie sich zwar sofort schämte, gegen die sie aber auch nicht ankam: Sie bleckte die Zähne, so dass ihr bedauernswertes Gegenüber ihr schreckliches Raubtiergebiss sehen konnte, hob die zu Krallen verkrümmten Hände und stieß ein wütendes Katzenfauchen aus.
Es war fast schon komisch, dass die alte Frau das Kreuzzeichen vor Brust und Stirn schlug, bevor sie in Ohnmacht fiel. Lena sprang zu ihr, fing sie auf und trat den kippenden Gehstock hinter sich, damit Tom und Lummer, die inzwischen zu ihr aufgeschlossen hatten, ihn sich schnappen konnten. Ein verräterisches Klappern blieb aus, aber ein schmerzerfülltes Keuchen und ein geflüsterter Fluch waren zu hören. Offenbar hatte sich einer der beiden nicht besonders geschickt angestellt. Immerhin machten sie keinen Lärm.
Behutsam ließ Lena die alte Frau zu Boden sinken und überzeugte sich davon, dass ihr Herz noch schlug. Als sie sich wieder umdrehte und Toms Blick begegnete, schüttelte der nur den Kopf, während Lummer sie finster anstarrte. Er hatte den Stock der alten Frau neben sich gegen die Wand gelehnt und lutschte am linken Daumen.
»So geht man nicht mit alten Leuten um«, nuschelte er.
»Aber es ist effektiv«, meinte Tom, »das muss man sagen.«
»Wohin jetzt?«, fragte Lummer.
Lena machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gerade erst gekommen waren, ging wortlos an ihm vorbei und bog diesmal richtig ab. Jetzt erkannte sie die Umgebung wieder. Der Lift war zwar nur ein paar Schritte entfernt - aber dazwischen befand sich eine offen stehende Tür, hinter der anscheinend einer der Gemeinschaftsräume des Altenheims lag. Und offensichtlich gehörte es nicht zu den Angewohnheiten des Personals, ihre Schutzbefohlenen mit den Hühnern ins Bett zu schicken. Lena hörte gedämpfte Stimmen, leises Lachen und das Klappern und Klirren von Geschirr und Gläsern, und sie sah das blaue Flackern eines Fernsehers.
Sie bückte sich, weil sie wie ein Schatten an der Tür vorbeihuschen wollte, besann sich dann eines Besseren und richtete sich auf, um mit ruhigen Schritten daran vorbeizugehen. Tom und Lummer folgten ihrem Beispiel, und sie erreichten unbehelligt den Lift. Lummer stieß erleichtert die Luft aus und machte eine auffordernde Geste, aber Lena zögerte, auf den Rufknopf zu drücken. Dass sie es so leicht hierher geschafft hatten, beunruhigte sie.
»Was ist?«, flüsterte Tom.
»Nichts«, antwortete sie und presste den Daumen entschlossen auf die kleine Taste.
Der Aufzug war leer, aber es kostete sie trotzdem Überwindung, die kleine Kabine zu betreten und sich umzudrehen, um Platz für Lummer und Tom zu machen. Aus einem Grund, der sich ihr nicht ganz erschloss, hatte Lummer den Gehstock der alten Frau mitgenommen. In der anderen Hand hielt er die Pistole, und sein Finger lag sinnigerweise auf dem Abzug und nicht am Schalter der Taschenlampe. Lena verzichtete auf eine entsprechende Bemerkung. Irgendetwas sagte ihr, dass ihm auch diese vermeintliche Superwaffe nichts nutzen würde.
Wortlos drückte sie auf die oberste Taste und zeigte dann auf den Gehstock, den er so inbrünstig umklammerte, als hielte er
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